NEAL STEPHENSON: „AMALTHEA“


„Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund.“ Mit diesem hinreißenden ersten Satz beginnt „Amalthea“, das jüngste Epos von Neal Stephenson. Das Ereignis datiert der US-Kultautor auf 05:03:12 Weltzeit, man würde es später als Stunde Null bezeichnen, die Stunde, in der der Weltuntergang begann.
Die Menschen sind zwar aufgeregt, als sie entdecken, dass der Erdtrabant in sieben große und viele ganz kleine Stücke zersprungen ist. Ob durch einen Meteoriteneinschlag oder ein anderes Phänomen ist zwar unbekannt, doch es ängstigt nicht wirklich. Als jedoch zwei der dicken Brocken miteinander kollidieren und dabei ein achter entsteht, veranlasst das den oft im Fernsehen auftretenden Astronomen Doc Dubois zu eingehenden Berechnungen.
Mit einer alarmierenden Erkenntnis: es wird weitere Kollisionen und Aufteilungen geben und dieser Prozess wird sich exponentiell derartig steigern, dass eine regelrechte Trümmerwolke entsteht. Diese aber wird schließlich als ein „Harter Regen“ von Meteoriten die Erde bombardieren. Zu den allumfassenden Schäden kommt dann als noch schlimmerer Nebeneffekt eine Aufheizung der Atmosphäre, die alles Leben vernichtet und den Planten auf tausende von Jahren unbewohnbar macht.
Was Neal Stephenson hier mit akribischer Präzision beschreibt, leitet einen wahren ScienceFiction-Thriller ein. Der aber spielt nicht nur in der sehr nahen Zukunft, wie schon die fast durchweg bekannten realen technischen Gegebenheiten zeigen. Das Alles entwickelt sich wirklichkeitsnah, also ohne Aliens oder den umgehenden Bau eines utopischen Riesenraumschiffes zur Emigration der sieben Milliarden Erdbewohner.
Das Erschreckendste jedoch an den Berechnungen des Wissenschaftlers ist der Zeitfaktor, denn den Verantwortlichen der Welt bleiben maximal zwei Jahre, um noch irgendetwas in die Wege zu leiten. Hier rückt die ISS ins Zentrum des Geschehens. Die ehrwürdige – echte – Raumstation auf der Erdumlaufbahn hat gegenüber dem aktuellen Ist-Zustand lediglich einen Zusatz erfahren. Ein schwerreicher Weltraum-Unternehmer ließ den Asteroiden Amalthea „einfangen“ und an die ISS andocken, um die Möglichkeiten für den Abbau seines Eisens und Nickels zu erforschen.
Man weiß, dass die Menschheit insgesamt nicht zu retten ist, und auf „Izzy“, so seit langem der Spitzname der ISS, finden nur wenige Personen Platz. Hier kommt nun US-Präsidentin Julia Bliss Flaherty mit ins Spiel, die sehr wohl weiß, dass die Zeit nicht ausreicht, um Habitate für größere Menschenmengen im All zu bauen. Doch die Führer der Länder einigen sich auf wenisgtens auf den Bau einer Art Arche. Aus einer ganzen Reihe von kleinen Stationen soll eine Kette von zusammenhängenden Habitaten geschaffen und als sogenannte „Cloud Ark“ um die ISS gereiht werden.
Um all diese Vergänge weiß der Leser sehr früh, gleichwohl entwickeln die detailliert geschilderten, vor allem technischen Herausforderungen unter dem Eindruck des feststehenden Weltuntergangs eine Hochspannung, die nicht nur ausgewiesene SF-Liebhaber mit unentrinnbarer Sogwirkung fesseln wird. Da wird das Ringen um möglichst viele Rettungsplätze und die Auswahl derer, die sie besetzen sollen, zu einem atemberaubenden Wettlauf, der durch die exakten Schilderungen des einsetzenden Meteoritenregens und der Vernichtung der Erde als bewohnbarer Planet noch überboten wird.
In den Modulen der Arche aber gehen in der Folge aus sehr verschiedenen Gründen die meisten der ohnehin nur rund 1500 Evakuierten zugrunde. Daran haben die Mondtrümmer auch ihren üblen Anteil, allerdings ist es gelungen, aus dem Asteroiden Amalthea mittlerweile eine Art starken Schutzschild zu machen. So rettet Amalthea – wie die gleichnamige Nymphe, der der Sage nach den Säugling Zeus vor seinem menschenfressenden Erzeuger Kronos schützte – eine winzige Gruppe von Frauen ins Überleben.
Eine knappe Ressource der Menschheitserhaltung, bei der Männer überflüssig, gesunde, funktionstüchtige Gebärmütter aber alles sind. Eine der acht ist bereits jenseits der Fruchtbarkeitsgrenze, die anderen jedoch werden nun zu den „Sieben Urmüttern“. Sie sollen die menschliche Rasse erhalten, wozu es jedoch noch komplexe Probleme zur Vermeidung von Inzucht und diversen Gen-Defekten zu lösen gilt.
Schließlich folgt mit der schlichten Überschrift „5000 Jahre später“ Teil 3 des gewaltigen Werkes. Die hochzivilisierten Nachkommen der „sieben Evas“ beginnen auf der Grundlage des seinerzeit geretteten Wissens der Menschheit mit der Kolonialisierung der Neuen Erde. Was erneut spannende Aspekte aufwirft, denn es gibt auf dem kargen Planeten bereits große Mengen primitiver Höhlenmenschen als Nachfahren damals trotz allem Überlebender. Aber auch die sieben im All entstandenen verschiedenen Ethnien haben allerlei Konflikte miteinander.
Nach zwei dritteln der großen Geschichte des Weltuntergangs entwirft Neal Stephenson hier in seiner unnachahmlichen Weise einmal mehr eine faszinierende neue Welt – auf der Grundlage der alten, nur vielleicht um einiges geläutert...
Fazit: wer für einen gewaltigen Roman mit viel hochintelligenter ScienceFiction samt exzellent gezeichneten Protagonisten offen ist, findet in „Amalthea“ ein grandioses Stück ebenso fantasievoller wie anspruchsvoller Literatur.

# Neal Stephenson: Amalthea (aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller); 1056 Seiten; Manhatten Verlag, München; € 29,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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