DAVID LEAVITT: SPÄTE
EINSICHTEN
Pete und Julia gehören zu den zahlreichen US-Amerikanern, die sich durch Hitlers
Einmarsch in Frankreich im Juni 1940 gezwungen sahen, mit einem der wenigen Schiffe aus
Lissabon, der Hauptstadt des neutralen Portugals, in die sichere Heimat zu entkommen.
Der Autovertreter und seine schwierige Frau begegnen während der nervigen Wartezeit
Schicksalsgenossen, dem bohémehaften Ehepaar Edward und Iris Freleng, das unter dem
Pseudonym Xavier Legrand mit guten Erfolg Kriminalromane verfasst. Während rund um sie
herum zigtausende wirklich Entwurzelter unter schwierigsten Bedingungen um eine Flucht aus
Europa bangen, scheint das größte Problem dieser beiden Paare das Durchstehen der
lästigen Wartezeit zu sein, bis endlich ihr Dampfer geht.
Das ist die Ausgangssituation für David Leavitts neuen Roman Späte
Einsichten, in dem Pete als Ich-Erzähler fungiert. Er lebt seit geraumer Zeit mit
den Launen seiner Frau, die aus teils nebulösen und erst später verständlicher
werdenden Gründen die Heimkehr zu ihrer Familie möglichst vermeiden will. Und das,
obwohl gerade sie als Jüdin von den Vieren am meisten Grund zur Flucht hätte. Immerhin
mussten sie in Paris wegen der anrückenden Wehrmacht ein feines Leben samt elegantem
Apartement aufgeben, wogegen der Grund der Frelengs, nicht in die frühere Wahlheimat
England zurückzukehren, ein recht banaler ist: ihr betagter Hund müsste in die
obligatorische Quarantäne.
Während sich die Paare zunächst nur in Straßencafés treffen, kommt es jedoch recht
bald zu einem plötzlichen absinth-geschwängerten Auftakt einer ebenso rabiaten wie
leidenschaftlichen Sex-Affäre zwischen dem völlig überraschten Pete und dem
charismatischen aber auch narzisstischen Edward. In einer Stadt, in der Hotelzimmer
derzeit Mangelware sind, bleibt für die immer wieder folgenden heimlichen Treffen nur der
Strand. Oder in einer obskuren Passage ein Bordell.
Nach und nach wird auch die Oberflächlichkeit und die Brüchigkeit der bisherigen
Beziehungen offenbar. War Pete für die megärenhafte Julia oft genug nur ein
Blitzableiter für ihre Neurosen, hatten Edward und Iris ohnehin eine offenere Art des
Umgang miteinander und so ist für Iris dieser neue Seitensprung des Gatten kein
wirkliches Problem.
Vieles jedoch in diesem bei aller Eleganz der Prosa merkwürdig berührenden Reigens
inmitten einer fremden Stadt voller Flüchtlinge in Not und Verzweiflung eröffnet
Überraschungen, späte Erkenntnisse und ganz sicher auch eine gewisse Irritation beim
Fortgang der Geschichte. Fazit: ein ungewöhnlicher Beziehungsroman, exzellent
geschrieben, in dieser Einbettung in die reale Situation in jenen Tagen aber sicher nicht
für jeden Leser ein unbeschwerter Lesegenuss.
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