ASTRID LINDGREN: „DIE MENSCHHEIT HAT DEN VERSTAND VERLOREN“


„Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben.“ Mit diesem Satz eröffnete Astrid Lindgren (1907-2002) ihre Kriegstagebuch genannten Aufzeichnungen in insgesamt 17 Kladden, die vom 1. September 1939 bis Silvester 1945 reichen. Ihre Tochter Karin Nyman legte sie jetzt nach sorgfältiger Transkription vor.
Das gewaltige Kompendium, für das Nyman bewusst auf eine Vielzahl der Schätze an Zeitungsausschnitten und anderen Faksimiles verzichtete, darf man als Vermächtnis der berühmtesten Kinderbuchautorin der Welt an die Erwachsenenwelt ansehen. Wobei der Titel „Die Menschheit hat den Verstand verloren“ ein Zitat vom 12. Mai 1942 ist, ein Tag, an dem sich die Kriegsparteien – zum Glück ohne tatsächliche Umsetzung – gegenseitig mit dem Einsatz von Giftgas bedrohten.
Lindgren war 31 und noch einige Jahre entfernt von ihrer großen Schriftstellerkarriere, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Sie lebte ein beschauliches Leben mit Ehemann und ihren zwei Kindern in Stockholm, als das Unheil rundherum einsetzte. Schon bald zeigen ihre Einträge das erste große Bangen vor einem Übergreifen des Krieges auch auf das neutrale Schweden. Wegen des nahen finnisch-russischen Krieges fürchtet Lindgren anfangs eine sowjetische Invasion sogar mehr als Hitler.
In dieser Zeit würde sie im Zweifelsfalle notfalls lieber „Heil Hitler“ rufen, als „die Russen auf den Hals kriegen“. Allerdings sieht sie ohnehin in Nationalsozialismus und Bolschewismus gleichböse Monster der Weltgeschichte. Gibt es zunächst sogar noch flapsige Notierungen über Hitler und Mussolini als „kernige Jungs“, nehmen Angst, Empörung und schließlich Hass vor allem auf Deutschland mit dem Fortlauf des Krieges immer mehr zu.
Das liegt jedoch nicht nur am aufmerksamen Verfolgen von Radio- und Zeitungsnachrichten. Vielmehr wird Astrid Lindgren, die in der Schule einst Deutsch lernte, zu einer besonders intim informierten Zeitzeugin. Seit 1940 arbeitet sie – so heimlich, dass daheim keiner etwas davon weiß – für den schwedischen Nachrichtendienst in der Abteilung Briefzensur. Hier erfährt sie mehr als fast alle anderen Landsleute, weiß früh von KZs und was dort vor sich geht, liest von Euthaniasie- und Lebensborn-Programmen.
Die Erkenntnisse aus Briefen entkommener Juden reichen so weit, dass sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt von Massenvernichtungen weiß. Doch Lindgren zitiert nicht nur aus vielen Briefen, sie fertigt sogar von manchen nun im Buch enthaltene Kopien an. Und sie belegt anhand eines Zeitungsausschnittes vom Oktober 1942, dass ein Historiker bereits zu diesem Zeitpunkt von 700.000 vernichteten Juden in Polen schreibt – womit dieses Wissen also durchaus öffentlich wurde.
Man kennt Lindgrens Grund für die Aufnahme des Kriegstagebuchs nicht, doch offenbar wollte sie Zeugnis für sich selbst ablegen, das Erfahrene, das im Rahmen der trotz allem milden Beschränkungen in dieser Insel des Friedens inmitten des rundherum tobenden Krieges Erlebte festhalten. Zugleich formte und prägte es mit zunehmender Bitterkeit des Kriegsverlaufs ihre antimilitaristische und pazifistische Haltung. Aus der im Laufe der Jahre auch die ganz spezielle Charakterisierung ihrer ersten Romanfigur erwuchs.
Für die in den Kriegsjahren kränkelnde Tochter Karin erfand sie Geschichten mit einer Heldin, die sich demonstrativ, frech und fröhlich gegen jede Obrigkeit auflehnt und – ohne Mutter und mit einem verschollenen Vater quasi mit den zahllosen Kriegswaisen vergleichbar – sich die Welt so macht, wie sie ihr gefällt. Den dann weltberühmt gewordenen Namen „Pippi Langstrumpf“ steuerte schließlich Tochter Karin bei.
Private Interna enthalten die Kladden nur wenige, so u.a. verhaltene Passagen über eine drückende Ehekrise. Für den Leser weitaus interessanter sind jedoch ohnehin neben den direkten Notizen über die Kriegsereignisse jene über die Einflüsse, die diese auch auf das Leben in Schweden mit seiner ebenso pragmatisch wie erfolgreich praktizierten Neutralität hatte. Das Einzigartige dieser Aufzeichnungen aber liegt in den zwei Besonderheiten von Lindgrens Tagebüchern: zum Einen der Glücksfall der geheimen Arbeit in der Briefzensur und zum Anderen in der unschätzbaren Tatsache, dass es sich hier ausschließlich um die höchst authentischen Erkenntnisse und Erlebnisse einer sprachmächtigen Zeitzeugin aus unmittelbarem Dabeisein handelt.
Fazit: ein ehrliches, ein wertvolles, ein spannendes Buch und ein Muss nicht nur für die vielen Verehrer dieser großartigen Autorin.

# Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945 (aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs); 576 Seiten, div. Abb.; Ullstein Verlag, Berlin; € 24

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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