GREGOR SCHÖLLGEN: „GERHARD SCHRÖDER“


Nicht nur Gegner nennen Gerhard Schröder gern den Basta-Kanzler und einen Mann des Alles oder Nichts. Zur ersten großen Biographie über diese besondere Politi-kerpersönlichkeit setzte Gregor Schöllgen mit derselben Haltung die Bedingungen: ungehinderter Zugang zu allen privaten und amtlichen Quellen.
Schröder war gut beraten, auf diese Grundforderung des Professors für Neuere und Neueste Geschichte einzugehen, denn dem renommierten Historiker gelang auch deshalb eine Biographie, die Maßstäbe setzt. Und es sei vorweg gesagt: auch für politisch Interessierte mit guten Kenntnissen gibt es die ein oder andere Überraschung. Ansonsten wird dieses gewaltige Buch jeden Leser fesseln, gleichgültig, ob er den Ex-Bundeskanzler mochte oder nicht, ob er der SPD nahesteht oder sie eher kritisch sieht.
Zu überraschenden Erkenntnissen kommt es gleich zum Auftakt, wenn der Autor die recht wirre Familiengeschichte beleuchtet und man Verblüffendes über den Vater liest. Wusste man bisher lediglich, dass er im Herbst 1944 als Soldat fern der Heimat umkam, ohne seinen am 7. April geborenen Sohn je gesehen zu haben, erfährt man hier von Gefängnisstrafen des einfachen Mannes. Die späteren Privatverhältnisse u. a. mit vier Ehen handelt Schöllgen dagegen wohltuend diskret ab.
Den Weg des Jungen aus ärmlichsten Verhältnissen aber, der aus diesen Gründen trotz Empfehlung kein Gymnasium besuchen kann und erst mal nach einer kaufmännischen Lehre in einem Porzellangeschäft mit größtem Ehrgeiz den Weg über den zweiten Bildungsweg bis zum Rechtsanwalt schafft, zeichnet der Biograph ebenso akribisch nach, wie den bereits früh einsetzenden Kampf um eine politische Karriere. Und schon zu den Anfängen als Juso – bis hin zum Bundesvorsitzenden – zeigt er gerade dieses Merkmal, das ihn aus dem Rudel der Rivalen heraushebt: keiner ist so kämpferisch wie er und oft führt das schon deshalb zum Sieg, weil man ihn mal wieder unterschätzt hat.
Bereits 1980 schafft Schröder den Sprung in den Bundestag, bewundert Willy Brandt und Bundeskanzler Helmut Schmidt – den er gleichwohl, ohne ihn persönlich anzugreifen, für seine Politik zum NATO-Doppelbeschluss öffentlich kritisiert – und lernt das Taktieren ebenso wie den bis zur Meisterschaft entwickelten Umgang mit den Medien. Elegant der Schwenk zur Landespolitik in seinem Heimatland Niedersachsen, wo er 1986 nach der Wahlniederlage gegen Ministerpräsident Ernst Albrecht diesen vier Jahre später triumphal aus dem Amt drängt.
Der weitere Aufstieg bis ins Kanzleramt im Herbst 1998 wird mit all den Drehungen und Wendungen minutiös geschildert und so manche Fakten erstaunen im Rückblick, wie ohnehin jeder Politikinteressierte schon deshalb ungemein von dieser umfassenden Politiker-Vita gefesselt sein wird, weil sie voll eingebettet ist in die deutsche und internationale Zeitgeschichte mehrerer Jahrzehnte. Die spannendsten Passagen jedoch sind neben dem ambivalenten Verhalten Schröders gegenüber den Grünen jene über das spezielle Verhältnis zwischen ihm und Oskar Lafontaine.
Für den pragmatischen Schröder, der bekanntlich vom ziemlich linken Juso eine Wandlung bis hin zu dem als „Kanzler der Bosse“ geschmähten Realpolitiker absolvierte, war die Verbindung zum Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen weder in Niedersachsen noch im Bund eine Liebesheirat sondern nur eine Zweckehe. Beschrieben wird hier noch einmal ausführlich, wie die Rollen zwischen den sich in vielem durchaus ähnlichen „instinktgesteuerten Machtmenschen“ Schröder und Joschka Fischer noch vor der Bundestagswahl von 1998 auf „Koch und Kellner“ festgeklopft wurde.
Ungleich diffiziler und für die politische Entwicklung von immenser Bedeutung war die Rivalität zu Lafontaine, die der Biograph mit tiefen und teils überraschenden Erkenntnissen darlegt. Hatte der selbstbewusste Saarländer als SPD-Chef noch getönt, es sei ihm egal, wer unter ihm Kanzler werde, so hatte er den „mit allen Wassern gewaschenen Machtmenschen“ Schröder mit seinen bis zur Perfektion ausgereiften Einzelkämpferqualitäten schlichtweg unterschätzt.
Wie es zur Flucht aus allen Ämtern und dem bis heute auch nicht annähernd beigelegten Zerwürfnissen samt Rachegelüsten Lafontaines kam, das liest sich geradezu aufregend. Doch wie Kindheit und Jugend, das Herankämpfen bis ins Spitzenamt und das Ende der Kanzlerschaft sich sowieso bewegt und bewegend wie ein Roman lesen, erweist sich auch die Ära als deutscher Bundeskanzler als dicht voller Ereignisse von immer wieder weitreichenden Folgen.
Ob Kosovo-Einsatz, ob segensreiche Verweigerung im Irak-Krieg, ob Agenda 2010, Flutkatastrophe und vieles mehr, Schröder erwuchs zu einem Friedenskanzler, der als erster deutscher Regierungschef zum Jahrestag der Invasion in der Normandie und nach Moskau eingeladen wurde. Wo der ebenso streitbare wie umstrittene Homo politicus als Staatsmann am ehestens einzuordnen sei, dazu zitiert der souveräne Biograph die linker Umtriebe unverdächtige BILD-Zeitung mit dem 2012 von ihr vergebenen Ehrentitel eines „Kanzlers der Reformen“.
Als stets mutiger aber bei allem Kampfgeist auch für Fairness bekannte Akteur auf der politischen Bühne riskierte Schröder immerhin sogar seine Kanzlerschaft. So sei das abschließende Urteil des keineswegs unkritischen Gregor Schöllgen dazu angeführt: „Schröder hat außen- und sicherheitspolitisch die überfälligen Konsequenzen aus der Einheit gezogen und damit Deutschland auf den Platz geführt, auf den es gehört; und er hat das Land innenpolitisch so auf Vordermann gebracht, dass es diesen Platz selbstbewusst und überzeugend einnehmen kann.“
Fazit: mit dieser Biographie hat eine außergewöhnliche Politikerpersönlichkeit einen kongenialen Biographen und durch dessen große Meisterschaft eine verdiente Würdigung gefunden.

# Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder. Die Biographie; 1039 Seiten, div. Abb.; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 34,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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