JONATHAN FRANZEN: „UNSCHULD“


Einen gewaltigen Roman über Macht und Kontrolle, über Geheimnisse und Verrat, über die lebenslänglichen Verquerungen familiärer Misshelligkeiten und das alles eingebunden in die Internet-geprägte Gegenwart hat US-Großschriftsteller Jonathan Franzen mit „Unschuld“ jetzt vorgelegt.
Im Original lautete der Titel „Purity“ (Reinheit) und die 23-jährige Pip heißt mit ihrem richtigen aber verschmähten Vornamen Purity. Den erhielt sie von ihrer psychisch labilen Mutter, die im kalifornischen Santa Cruz Valley an der Kasse eines Bioladens sitzt und der Tochter außer dem Namen noch zwei weitere Lasten aufgebürdet hat. Zum Einen verweigert sie ihr jegliche Auskünfte über Namen und Person des Vaters und zum Anderen trieb die milieuhafte Lebensweise die Tochter in die ruinöse Verschuldung durch ihren Studienkredit.
So verwundert es nicht, dass Pip in ihrer ebenso vitalen wie sarkastischen Art sofort zugreift, als sie eine an sich seltsame Chance sieht, die Wahrheit über ihre Herkunft zu herauszufinden. Die bietet ihr der global verehrte Internet-Guru Andreas Wolf, in etwa ein charismatischer Typ wie der Whistleblower Julian Assange. Wolf ging wegen der weltweiten Verfolgungen nach Bolivien ins Exil, wo er sein Enthüllungsportal „Sunlight Projects“ betreibt.
Wolf beherrscht neben Hauptperson Pip die Hauptzüge dieses auf etlichen Ebenen über gut 60 Jahre virtuos hin- und herspringenden Geschehens. Seine Geschichte führt in die von Franzen als „Republik des schlechten Geschmacks“ bezeichnete DDR, wo Wolf als Sohn eines Staatssekretärs und einer linientreuen Anglistik-Professorin aufwächst. Nicht von ungefähr ist diese Mutter Shakespeare-Expertin, so dass der Junge in seinen Pubertätsumtrieben eine ungesunde sexuelle Fixierung für und gegen sie entwickelt und sich als eine Art Hamlet gebärdet.
Mit einem aufrührerischen Gedicht katapultiert er sich schließlich ins Abseits und lebt dann in einer der Ost-Berliner Dissidenten-Kirchen. Dort betreut er Jugendliche, die es nötig haben, und sind sie weiblich und über 16, tut er dies besonders eindringlich. Bis er sich unsterblich in die wunderschöne 15-jährige Annagreta verliebt. Mit fatalen Folgen, denn sie wird von ihrem Stiefvater, einem Stasi-Mitarbeiter, missbraucht.
Wolf bringt den Übeltäter um und es gelingt ihm in den Stürmen der Wendezeit außerdem, seine Stasi-Akte an sich zu bringen. In einem West-Berliner Lokal kommt es schließlich zu einer weiteren schicksalhaften Begegnung, denn noch konnte er sein Mordopfer nicht endgültig beseitigen. Da vertraut er sich dem intelligenten aber naiven US-Journalisten Tom Aberant an, der ihm tatsächlich so erfolgreich hilft, dass Wolf nie verfolgt wird.
In der Gegenwart jedoch hat er geradezu paranoide Ängste vor einer späten Aufdeckung, die ihn mehr als nur vom hehren Moralistenthron – und den Annehmlichkeiten eines wahren Harems von idealistischen Assistentinnen – fegen würde. Um so gefährlicher erscheint ihm deshalb der alte Mitwisser, denn Tom ist mittlerweile bis zum Chefredakteur des Online-Pressedienstes „Denver Independent“ aufgestiegen, der im Gegensatz zum skrupellosen Hacker-Guru Wolf mit viel Idealismus auf guten altmodischen Investigativ-Journalismus setzt.
Doch auch dieser Moralist hat seine Mäkel, die er – als einziger Ich-Erzähler des Romans – selbst schildert. Seine offene Wunde ist die hilflose Liebe zu Annabel, vor der er schon vor der Eheschließung gewarnt wurde. „Ein Tornado an Selbstgerechtigkeit“ sei sie und tatsächlich entpuppte sich die für ihn unwiderstehliche Avantgarde-Künstlerin als hochmanipulativ. Hatte sie einerseits ein Riesenerbe ausgeschlagen, nötigte sie Tom zu einem vegetarischen und enthaltsamen Leben, unterbrochen von vielen heftigen Streitereien und seltenem Sex bei Vollmond.
Kaum weniger neurotisch als diese jahrelange Ehehölle zeigt sich jedoch auch Wolf mit seinen Anwandlungen, mit denen er bei Pip auf spröde Reaktionen stößt. Wichtiger ist ihm aber ihre Rekrutierung als Spitzel in Toms Onlinedienst, zu dem er sie mit einem getürkten Köder schickt, um schmutzige Geheimnisse in dessen Leben aufzuspüren. Und das ist längst noch nicht das Ende des ungeheuer vielfältigen Reigens samt all der grandios gezeichneten Charaktere mit ihren eigenen Lebensläufen, doch mehr auf einzelne Stränge des raffiniert verflochtenen Geschehens einzugehen verbietet sich.
Jonathan Franzen ist mit „Unschuld“ ein brillanter amerikanisch-deutscher Gesellschaftsroman gelungen und er hat diese so komplexe Geschichte derartig genial komponiert, dass sie den Leser gleichwohl nie in Verwirrung stürzt sondern ihn unentrinnbar fesselt. Dafür gibt es nur ein Prädikat: ein Meisterwerk.

# Jonathan Franzen: Unschuld (aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld); 830 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 26,95

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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