SILVIO
BLATTER: WIR ZÄHLEN UNSERE TAGE NICHT
Rein nach Jahren gemessen gehören Isa und Severin Lerch allmählich zum sprichwörtlichen
alten Eisen. Und irgendwie stehen sie auch am Ende einer langjährigen Ära, sie als immer
noch attraktive und sehr populäre Radiomoderatorin, er ein Bildhauer mit beträchtlichem
Werk und seit lange gesetztem Ruf.
Während sich die beiden ehemaligen Blumenkinder und 68er nun am Rande des Rentenalters
fragen, wie es weitergehen soll, erscheinen ihre Kinder Sandra, 40 und bekennende
Familienfrau, sowie Matthias, der etwas jüngere Personalentwickler mit den
Beziehungsproblemen, dagegen bürgerlich bis geradezu spießig. Auf jeden Fall aber im
Vergleich zu ihren Eltern bemerkenswert konservativ bis kleinkariert.
Diese Familienkonstellation samt der zwei Enkelkinder stellt der Schweizer Erfolgsautor
Silvio Blatter in den Mittelpunkt seines jüngsten Romans Wir zählen unsere Tage
nicht. Isa tut sich ohnehin schwer mit dem Gedanken des Abdankens als Rundfunkdiva,
um so mehr frustriert sie die Konfrontation mit ihrer vorgesehenen Nachfolgerin, einer
faden Maus mit dünner Stimme. Severin wiederum beklagt, dass Skulpturen wie eben auch
seine ehemals so gefragten großen Holzarbeiten aus dem Blickpunkt der Szene verschwunden
sind.
Während die extrovertierte Isa ernsthaft nach einer Möglichkeit der Weiterbeschäftigung
bei einem privaten Sender sucht, plagen den in einem stillgelegten Steinbruch arbeitenden
Severin direkte Angriffe der sogenannten Paintball-Krieger. Erst bespritzen
und beschädigen sie nächtens seine Kunstwerke, später kommt es sogar zu einer blutigen
Konfrontation, die ihm sein geliebtes Atelier da draußen endgültig verleidet.
Um wie viel trivialer wirken da die Alltagsgeschichten ihrer Kinder, wenn Sandra eines
Tages durch Zufall entdeckt, dass ihr Ehemann sie mit einer quirligen,
beziehungsunfähigen Barbara betrügt. Oder wie Matthias die Ehefrau samt Tochter in der
Ferne entschwindet und er sich in einer unerreichbare Kosovarin verliebt. Die eigenen
Eltern aber sehen beide eher kritisch und sie können mit deren über 40 Jahre währenden
Lebensentwurf wenig anfangen.
In Vor- und Rückblenden führt Blatter seine Protagonisten als nüchtern sachlicher
Beobachter vor, wobei seine Sympathien spürbar bei Isa und Severin liegen. Die nur an
Jahren alt sind, dies im Kopf aber keineswegs so empfinden und nicht einsehen mögen, dass
die Schwelle zum letzten Lebensdrittel das Ende eines gestalteten Seins sein soll. Wenig
hehl machen sie allerdings aus der Langeweile, die sich seit ungewissen Zeiten in ihrer
Ehe eingenistet hat, ohne die Gemeinsamkeit ernsthaft zu stören: Wir sind als Paar
durchs Leben geschlingert.
Da wundert es am Ende nicht wirklich, dass es die Alten sind, die sich noch einmal
aufraffen und Neues wagen, wogegen ihre Kinder in den Gewohnheiten dieser nach Sicherheit
gierenden Generation verhaften bleiben. Fazit: es mag zwar insgesamt eher eine kluge
Versuchsanordnung von progressiven Eltern und ihren angepassten Kindern sein, doch sie ist
durchaus exemplarisch für unsere Zeit und dabei unterhaltsam zu lesen.
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