ADAM TOOZE: SINTFLUT
Winston Churchill sprach nach dem Zweiten Weltkrieg einmal von einem 30-jährigen
Weltkrieg, der im Sommer 1914 ausbrach und 1945 eine völlig veränderte Welt
zurückließ. Tatsächlich war die knapp 20-jährige Pause zwischen den beiden
Weltenbränden nicht nur eine von vielen kriegerischen Konflikten durchsetzte Zeit, sie
war zudem so voller Umbrüche, dass der zweite weltweite Waffengang aus heutiger Sicht
geradezu zwingend als Fortsetzung des ersten daraus hervorgehen musste.
Diesem Phänomen nach der Sintflut, mit der der Erste Weltkrieg die alte Weltordnung
erschüttert und gleich mehrere Reiche hinweggespült hatte, widmet sich Adam Tooze mit
seinem Großwerk Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916-1931. Tooze lehrt und
wirkt als Professor für moderne deutsche Geschichte an den Universitäten Cambridge und
Yale. Als Wirkmächte sieht er weniger die rein militärischen Meilensteine des
Kriegsgeschehens, auch wenn er die Schlacht von Verdun von 1916 als erste
totale an den zeitlichen Ausgangspunkt legt.
Die alles entscheidende Weichenstellung allerdings erfolgte dann durch den vom Deutschen
Reich mit dem erneut aufgenommenen uneingeschränkten U-Bootkrieg, der die wenig
kriegswilligen Amerikaner in den Krieg hineinzog. Hatte Präsident Wilson noch auf eine
Vermittlung zu einem Frieden ohne Sieg hinzuwirken versucht, bedeutete der
Kriegseintritt den endgültigen Aufstieg der USA zur Weltmacht. Sie allein war 1918
einzige unbeschädigte Großmacht und der ganz große Gläubiger fast aller
kriegsteilnehmenden Staaten.
Dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Aufschwung stand vor allem der
Machtverlust des britischen Weltreiches gegenüber, während das Deutsche, das
Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich sogar in Gänze erschüttert wurden
mit fatalen Folgen im Vakuum nach dem Kriegsende. In brillanten Verknüpfungen
umspannt Historiker Tooze die weltweiten Umbrüche und wie sie einander bedingten und die
Gewichte verschoben.
Natürlich negiert auch er nicht die zwangsläufigen Folgen des Versailler
Friedensvertrages für das Aufkommen des deutschen Nationalismus und des Faschismus, doch
er unterlegt dem auch die finanziellen und wirtschaftlichen Weichenstellungen, die unter
anderem zur katastrophalen Weltwirtschaftskrise führten einem weiteren wichtigen
Nährboden für das Aufkochen der giftigen Suppe, die in den 30er Jahren Diktatoren,
Kriegstreiber und Umstürzler nährte.
Die internationale Verschuldung erreichte Irrsinnsausmaße, im neuen Sowjetreich tobte ein
international geschürter Bürgerkrieg, der aus pragmatischen Gründen Frieden predigende
US-Präsident Wilson versagte, als er in der neuen Friedensordnung hätte aktiv werden
müssen, und die britische Politik häufte in völliger Verkennung ihres tatsächlich noch
vorhandenen Machtpotentials in vielen Weltregionen schwere politische Fehler an, die sich
wie im Nahen Osten bis in die Gegenwart auswirken.
Tooze beleuchtet aber auch die vielfach unterschätzte weitreichende Bedeutung der
Internationalen Flottenkonferenz von 1921, bei der Japan noch relativ
relativ pro-westliche auftrat. Oder die nachvollziehbaren Motive, die dem Faschismus in
Italien den Weg öffneten sie waren in noch im Krieg gemachten und später
gebrochenen Versprechen der Alliierten begründet.
Trotz der hohen Faktendichte und der Fülle der berücksichtigten Schauplätze, Ereignisse
und Entwicklungen verliert der Autor nie den Überblick und bleibt dabei zugleich bester
angelsächsischer Historikertradition folgend spannend und unterhaltsam. Fazit: es gibt
zahlreiche Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg, zu den wenigen unverzichtbaren
Glanzstücken, die das Prädikat Standardwerk verdienen, aber gehört dieses
Buch allein schon aufgrund der andersartigen Herangehensweise.
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