ANNE TYLER: „DER LEUCHTEND BLAUE FADEN“


Anne Tyler ist eine der großen Vertreterinnen des im besten Sinne klassischen Mehrgenerationenromans. Auch in ihrem jüngsten Roman „Der leuchtend blaue Faden“ stellt die Pulitzer-Preisträgerin eine ziemlich typische amerikanische Mittelschichtsfamilie in den Mittelpunkt und Schauplatz ist einmal mehr überwiegend ihre Heimatstadt Baltimore.
In Teil Eins dreht sich fast alles um Red und Abby Whitshank, seit Jahrzehnten verheiratet, gut situiert und zumindest nach außen hin eine glückliche Familie. Intern jedoch brodeln Eifersüchteleien insbesondere zwischen den Kindern, wo Denny das schwierige Sorgenkind ist. Worin dessen Groll gegen die Eltern, der sein Verhalten prägt, herrührt, wird erst später im Roman verständlich. Wie die Autorin ohnehin die große Sogwirkung gerade auch dadurch erzielt, dass so manches erstmal als gegeben aber nicht vollends nachvollziehbar erscheint, sich dann jedoch als schlüssig erweist.
Das gilt auch für Abby und Red, die jetzt ihre Enkel aufwachsen sehen, während ihren Kindern kaum bewusst ist, dass die Eltern auch einmal jung waren und nicht immer alles sonderlich glatt lief. Bei den souverän gemeisterten Sprüngen zwischen Gegenwart und Vergangenheit führt der dritte Teil dann zu einem Höhepunkt, der auch ereignismäßig deutlich herausragt – wobei der gesamte Roman sowieso weniger durch sensationelle Ereignisse als durch die große Nähe zum realen Leben mit seiner Fülle von Alltagserlebnissen fesselt.
Hier nun lernen wir Reds Vater kennen, den knorrigen Junior Whitshank, im Jahre 1926 ein Tagelöhner und Hungerleider, wie so viele Amerikaner in dieser Zeit. Wie er sich von Linnie Mae verführen lässt und dann Reißaus zu nehmen versucht, als er erfährt, dass sie ganze dreizehn Jahre alt ist, das hat bereits etwas von subtilem Humor. Um so heftiger wird es für ihn, als er in eine Falle gelockt und davongejagt wird. Dennoch gelingt ihm durch viel Fleiß und Entbehrungsfähigkeit ein ungeahnter Aufstieg in die Mittelschicht.
Als Zimmermann setzt er sich durch und macht schließlich das großzügige Haus in einer guten Gegen Baltimores zum Familiensitz, das er einst für einen reichen Auftraggeber gebaut hatte. Und an seiner Seite auf ewig nun Linnie Mae, die gleich nach ihrem 18. Geburtstag wieder bei ihm auftaucht und daheim derartig leiden musste, dass er sie einfach nicht wieder fortschicken kann. Junior aber entwickelt sich zu einem oft nur schwer zu ertragenden Patriarchen und es gehört zu den hinreißendsten Dialogen, wenn die künftige Schwiegertochter Abby auf das selbstgefällige Geschwafel treuherzig äußert: „Es muss schwer sein, so zu sein wie Sie, Mr Whitshank.“
Ohnehin sind es die vielen kleinen aber feinen Szenen und die einzigartige Beoobachtungsgabe Anne Tylers, die den Reiz und den Charme dieser ganz unangestrengt fesselnden Prosa ausmachen. Das ist lebensprall und zugleich fügen sich vermeintlich willkürlich herbeigezogene Puzzleteile allesamt zu einem stimmigen Gesamtbild. Fazit: das ist Unterhaltungsliteratur vom Feinsten von einer Meisterin ihres Faches.

# Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden (aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner); 447 Seiten; Kein & Aber Verlag, Zürich; € 22,90


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1077 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de