PETER RICHTER: „89/90“


„Das knappe Jahr zwischen Mauerfall und Beitritt war vielleicht nicht nur das beste Jahr der DDR, sondern auch das spannendste der Bundesrepublik. Es ist das Jahr, in dem ein beträchtlicher Teil Deutschlands sich im Zustand einer echten Anarchie befindet. Mit allen Herrlichkeiten, die so etwas mit sich bringt. Und mit allem Horror.“
Das erklärt der Journalist und Feulletonist Peter Richter zum Hintergrund seines autobiographischen Romans „89/90“, der diese beiden letzten Jahre des untergegangenen Staates umfasst. Was dieses Buch jedoch so einzigartig macht, ist die Art der Schilderung. Chronologisch wie ein penibler Berichterstatter geht er vor und er benötigt keine dramaturgischen Tricks, um den Leser zu fesseln.
Das liegt an der Besonderheit seines Schreibens, denn er wurde 1973 in Dresden geboren, wuchs dort auf und erzählt nun also aus dem Sommer, in dem er 16 wird und wie er mit 17 die wild bewegte Zeit der Anarchie erlebt. Und es sei vorweg gesagt: er tut dies aus dem Blick des Jugendlichen von damals, unmittelbar und ohne weise Deutung aus der Sicht von heute. Entsprechend schnörkellos und oft frech bis drastisch liest sich das Ganze, aber eben auch hinreißend authentisch.
Eingangs teilt sich das Alltagsleben der Ost-Teenager hier im „Tal der Ahnungslosen“ - in Dresden hatte man keinen West-Fernsehempfang! - in Schultrott am Tage und die allnächtlichen heimlichen Treffen im Freibad. Alle auf derselben Wiese, Pärchen knutschen nicht nur und gebadet wurde „nackig“. Natürlich tritt auch mal überraschend die Staatsmacht in Erscheinung und zum Schulbetrieb gehören Fächer wie der vormilitärische Unterricht und das Reinschnuppern in die Produktion.
Dennoch sind diese Jugendlichen nicht viel anders oder gar rebellischer als die im Westen. Noch nicht, mal abgesehen vom letzten vormilitärischen „Wehrlager“, das jemals 9.-Klässler erleben werden und das vom Satirischen her zu den Glanzstücken des Romans gehört. Und es ist glaubhaft angesichts des geringen echten politischen Interesses, dass der Ich-Erzähler fassungslos ist, als ihm die neue Freundin erzählt, sie sei so vom Kommunismus überzeugt, dass sie mit 18 der Partei beitreten wolle.
Der Berichterstatter dagegen neigt eher zum gedanklichen Aufbegehren, bei dem die in der DDR erstaunlich virulenten Punk-Bands zum Nachmachen reizen. Noch aber gilt auch für den Mittelschicht-Jüngling das ebenso naive wie dreiste Genießen einschließlich dem Foppen der Obrigkeiten. Doch der letzte DDR-Sommer zeigt erste Auflösungserscheinungen, „mal ein paar Tage nach Prag fahren“ wird zum geflügelten Wort und nach den Schulferien fehlen etliche Mitschüler und viele verlassene Wohnungen laden zum Besetzen ein.
Dann das Aufkommen der Demos, denen anfangs von oben noch massiv begegnet wird mit dem rechtsfreien Mittel sogenannter „Zuführungen“. Natürlich sind der Ich-Erzähler und seine Kumpels überall dabei, wo etwas los ist, schließlich: „Die Weltgeschichte schreibt einem keine Entschuldigungszettel für den Alltag.“ Wobei nun das geradezu explosionsartige Erwachen, Aufbegehren und Infragestellen durch das Volk in den Wochen bis zum Mauerfall fasziniert. Zugleich überrascht das ebenso schnell wachsende Aufkommen der Neonazis.
Teils aus denselben Freibadkreisen wie noch vorm Sommer, nun aber in Bomberjacken und mit eklatanter Gewaltbereitschaft. Eine rabiate Anarchie mit blutigen Straßenschlachten zwischen Glatzen und Punks beherrscht 1990 die Monate bis zum Beitritt am 3. Oktober, die zumindest Westlern in diesem Ausmaß wohl kaum in Erinnerung sein dürften. Aber die Staatsmacht war ja in ein Vakuum gefallen, während sich andererseits die Abstauber aus dem Westen bereits massiv breitmachten.
So erleben die Teenager neben dem üblichen altersgemäßen Umbruch ihres Leben zugleich und oft genug fassungslos den Umbruch ihrer gesamten bekannten Welt in diesem „Jahr ohne Autoritäten“. Peter Richter erzählt das Alles pointiert, unverblümt und mit viel Sinn für komische Momente. Dass er das absolut subjektiv und mit dem begrenzten Horizont jener Zeit tut, macht dieses Chronik um so glaubwürdiger. Hilfreich sind im Übrigen Fußnoten so manch vergessenen Details wie den wichtigsten Musikgruppen, Zigarettenmarken und weniger bekannten realen Zeitgenossen.
Fazit: so hinreißend echt „von unten“ sind Niedergang und Auflösung der DDR wohl noch nie erzählt worden.

# Peter Richter: 89/90; 413 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München; € 19,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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