CHRISTINA BAKER KLINE: „DER ZUG DER WAISEN“


Mit ihrem jüngsten Roman „Der Zug der Waisen“ legt Christina Baker Kline das Meisterwerk einer Geschichte vor, die kaum einen Leser ungerührt lassen wird. Was dieses Buch jedoch so besonders ergreifend macht, ist, dass die Erfolgsautorin hier ein kaum bekanntes dunkles Kapitel aus der amerikanischen Vergangenheit mit Schicksalen erzählt, die ähnlich wirklich gelebt haben.
Es geht um die „Orphan Trains“, Züge, mit denen zwischen 1854 und 1929 über 200.000 verwaiste, verlassene und heimatlose Kinder aus den Städten an der Ostküste in den Mittleren Westen gebracht wurden. Dort waren diese Entwurzelten willkommen, in den meisten Fällen allerdings nur als billige Arbeitskräfte auf den Farmen. In vielen Fällen waren die Adoptionen nichts als vertraglich geregelte Sklaverei mit Rückgaberecht bei Nichtgefallen. Schilderungen aus vielen Einzelfällen belegen es: vor Ort erfolgte bei der Ankunft eine Untersuchung und Auswahl der Kinder sehr ähnlich einem Sklavenmarkt.
Am Beginn des Romans steht jedoch die ungebärdige 17-jährige Molly im Jahr 2011, die bereits etliche Pflegefamilien hinter sich hat. Entwurzelt, weil der Vater verschwand und die Mutter wegen Drogendelikten inhaftiert ist, droht ihr nun das Jugendgefängnis, weil sie ein Buch klauen wollte und die Pflegemutter die Nase voll hat von ihr. Ihr Freund sorgt jedoch dafür, dass sie als Alternative 50 Sozialstunden ableisten darf, und dies bei der 91-jährigen Vivian Daly.
In der Villa der gebrechlichen aber wachen Dame soll sie helfen, den Dachspeicher aufzuräumen. Schon bald entdeckt Molly, dass die Greisin und sie ein ähnliches Schicksal teilen, denn Vivian war eines jener unglücklichen Kinder, dem die „Children's Aid Society“ einst auf so fatale Weise half. 1920 in Irland geboren, kam sie 1928 mit der Familie nach New York. Noch in der Phase der schwierigen Eingewöhnung endete der Versuch eines besseren Lebens abrupt, als eines Nachts die Wohnung abbrannte und nur Niamh – wie Vivian ursprünglich hieß – überlebt.
Schon ihre Verbringung mit dem Waisenzug nach Minnesota besiegelt ihre völlige Entwurzelung und sie landet als erstes in einer heruntergekommenen Hütte, wo Hunger, Schmutz und Gewalt herrschen. Sie muss sogar ihren Namen wechseln und flieht schließlich in einer Winternacht, als der verkommene junge Familienvater zudringlich wird. Diese Passagen aus Vivians Leben erzählt diese selbst im Präsens und wenn sie dadurch zutiefst unter die Haut gehen, liegt das gerade daran, dass die Autorin klar und gradlinig schreibt, ohne auf die Tränendrüsen zu drücken – das tun die geschilderten Geschehnisse selbst um so intensiver.
Das Elend der Lieblosigkeit und Erniedrigung weicht für das Mädchen erst, als es mit viel Glück zu den Nielsens kommt. Unverhofft gut geht es ihr bei den Ladenbesitzern, die sie schließlich sogar adoptieren und wegen der verstorbenen eigenen Tochter Vivian nennen. Trotz des freundlichen Verhältnisses bleibt ständig die Angst, eines Tages könnten die Nielsens ihrer überdrüssig sein, obwohl sie sich doch sehr nützlich macht und das Geschäft voranbringt.
Es sind die nie ganz vernarbenden Wunden, die später sogar dazu führen, dass sie ihre soeben geborene Tochter zur Adoption weggibt. Mit 21 hatte sie jenen Dutchy wiedergetroffen, mit dem sie einst im Waisenzug hierher kam, und sie wurden ein Ehepaar. Doch noch bevor er erfuhr, dass sie schwanger war, fiel er 1942 als Soldat im Pazifik.
Durch die vielen Gespräche mit der gar nicht mehr so rebellischen Molly mit dem Aufnahmegerät kommen endlose und großenteils schmerzliche Erinnerungen wieder hoch und Christina Baker Kline erklärt zur Person der Vivian, dass es in Pat Thiessen ein sehr reales Vorbild für sie gab. Ohnehin hat sie das Alles auch psychologisch feinfühlig und realistisch dargestellt und sie bezieht sich dabei auf sechs persönliche Interviews mit noch lebenden Kindern der Waisenzüge sowie hunderte von Berichten anderer Leidtragender, jeweils aus der Ich-Perspektive erzählt.
Dabei war es ein kluger Schachzug, die Variationsmöglichkeiten der Fiktion samt einer exzellenten Dramaturgie auszuschöpfen und die reale Geschichte der Waisenzüge einschließlich einigen Bildmaterials in den Anhang zu stellen. Fazit: ein zutiefst berührendes Buch, hervorragend geschrieben und von der unvergesslichen Art, die niemanden kalt lässt.

# Christina Baker Kline: Der Zug der Waisen (aus dem Amerikanischen von Anne Fröhlich); 350 Seiten; Goldmann Verlag, München; € 19,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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