JÜRGEN
NEFFE: MEHR ALS WIR SIND
Man stelle sich einen Biographen in einem späteren Jahrhundert vor, der die
Lebensgeschichte eines versponnenen Chemielaboranten niederschreiben soll. Dieser Janush
Coppki hat Anfang des 21. Jahrhunderts ein Wunderelixier erfunden, das das Schlafen
überflüssig werden ließ. Der selbst erzählende Biograph berichtet dabei von diesen
Vorgängen und ihren Auswirkungen im Heute als Chronist mit dem Blick aus einer anderen
Zeit.
Die daraus entstandene, auf recht spröde Weise fesselnde Geschichte hat Jürgen Neffe
unter dem Titel Mehr als wir sind verfasst. Als Biograph echter historischer
Persönlichkeit schuf er Meisterwerke über Albert Einstein und Charles Darwin und seine
spezielle Kunst fließt auch in diese Fiktion ein, wobei der Erzähler gänzlich anonym
bleibt. Seine Zielperson Coppki, Jahrgang 1979, war der ziemlich schüchterne Sohn eines
Aussteigerehepaares aus der Hippie-Zeit, der bei den Großeltern aufwuchs.
In seinem Ein-Personen-Zentralinstitut für Gedankenexperimente forschte er nach den
Formeln des Lebens, für die Entwicklung des folgenreiches Elixiers allerdings gab es zwei
konkrete Anlässe. Zum Einen hatte Coppki als Kind Albträume des Ertrinkens und wünschte
sich ein Mittel, um nicht mehr schlafen und folglich auch nicht mehr träumen zu müssen.
Zum Anderen wollte er mit einem solchen Wundermittel das Herz der Journalistin Vera
gewinnen, die unter quälender Schlaflosigkeit litt.
Doch die Folgen seiner Entdeckung gehen über die erfolgreiche Eroberung seiner
Herzensdame weit hinaus, denn das spezielle Wässerchen hat großartige Auswirkungen.
Niemand braucht mehr zu schlafen, Kreativität und Ausdauer werden gesteigert und der
Libido dient es ebenfalls. Wer das so wohlfeile Mittel nimmt, wird außerdem friedlich,
sozial und optimistisch und das in der bekanntermaßen getriebenen, überdrehten
und von Gewalttätigkeit beherrschten Zeit des frühen 21. Jahrhunderts. Doch wie nah
Utopie und Dystopie oft beieinander liegen, lässt schon der Beginn der Verbreitung des
Elixiers ahnen, als Coppki es Veras Tochter Jenny zur Erprobung bei ihren in Indien
lebenden Freunden der Nacht überlässt.
Nicht nur Coppkis Leben gerät schon bald aus den Fugen, es bilden sich Kritikergruppen
gegen die sensationelle Wachdroge, die so ihre versteckten Fußangeln birgt. Nicht jeder
mag auf die Wohltaten des Schlafes
und des Träumens verzichten und die Grenzen von Dürfen und Müssen verschwimmen nicht
folgenlos. Mit geschickten Kunstgriffen verknüpft Jürgen Neffe dabei die verschiedenen
Handlungsebenen und offenbart immer neue Sichtweisen bis hin zu Coppkis Lebenslauf mit
Geheimnissen, die sogar diesem selbst fremd waren.
Dieser komplexe, mal auch verstörende Roman um den Amateurforscher und seine Wachdroge
7-24 fesselt auf sehr eigene Weise, erfordert aber auch konzentriertes Lesen. Das jedoch
wird zu einem anspruchsvollen Vergnügen, das nachdenklich macht und lange nachhallt.
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