GISA
KLÖNNE: DIE WAHRSCHEINLICHKEIT DES GLÜCKS
Nach dem großartigen Familienroman Das Lied der Stare nach dem Frost widmet
sich die für ihre brillanten Krimis gerühmte Gisa Klönne auch in ihrem jüngsten Werk
wieder einer Familiengeschichte. Viel reale Vergangenheit und gleich spielen zwei
Mutter-Tochter-Konflikte eine wesentliche Rolle.
Die Wahrscheinlichkeit des Glücks lautet der Titel, doch genau solche
Schicksalsmutmaßungen sind Professor Dr. Frieda Telling gänzlich fremd. Die 49-Jährige
ist eine anerkannte Astrophysikerin, deren Leidenschaft der wissenschaftlichen Suche nach
Exo-Planeten gilt, und es heißt an einer Stelle, sie sei die Königin aller
sorgfältigen Berechnungen. Was Wunder, dass sie zu ihrer Mutter ein ähnlich
nüchternes Verhältnis hat wie zu ihrer Tochter Aline. Zwischen der begeisterten wie
begabten Balletttänzerin und der inzwischen schwer dementen Oma bestehen dagegen innige
Bande.
Immerhin ist Frieda nun aber zur Verlobung Alines mit dem Tanzpartner Jan nach Berlin
gekommen. Als sie nach einem umjubelten Auftritt der Beiden im Friedrichstadt-Palast
jedoch ein Geschenk von Oma Henny überreicht, kommt es zu einer unfassbaren Katastrophe.
Wie Frieda erst im Hotel erfährt, hat Aline der fragilen Holzschachtel die Hälfte eines
feinen roten Halstuches entnommen und ist darauf wie in Panik auf die Straße und vor ein
Auto gestürzt.
Nun liegt sie schwer verletzt im Koma und für Frieda wirft es das gesamte so geordnete
Leben über den Haufen. Was steckt hinter dieser ungeheuren Wirkung des Stofffetzens?
Hatte Mutter Henny einst eine heimliche Liebe? Statt um die Ordnung der Sterne wirbeln all
ihre Gedanken plötzlich darum, ob die Tochter wieder gesund wird und sogar wieder tanzen
kann. Und welche Geheimnisse in der Vergangenheit ihrer Mutter liegen, die zu Auskünften
kaum noch fähig ist.
Paul, älterer Kollege und solider Ehemann, reist auf Friedas Bitte bald wieder ab.
Graham, ebenfalls Physi-ker und damals der Erzeuger Alines - obwohl längst verheiratet -
wird Frieda mit seinen unverhohlenen Avancen dagegen ausgesprochen lästig. Um so
spannender eröffnet sich außer Passagen mit beklemmenden Erinnerungsbruchstücken Hennys
eine weitere Handlungsebene mit dem leicht verlotterten Erotikschriftsteller Arno Rether,
der sich eben um die Urne seines verhassten und kürzlich verstorbenen Vaters kümmern
soll.
Frieda stößt inzwischen auf Spuren aus der Vergangenheit ihrer Mutter im
ehemaligen KZ Sachsenhausen. Dort saß sie ein, als die Sowjets das Lager von 1945 bis
1949 als Lager für politische Häftlinge nutzten. Hatte es dort eine heimliche Liebe zu
einem Mitinsassen gegeben? Und wie kam dann der Vater ins Spiel, den Henny erst 1959
heiratete und den Frieda sehr geschätzt hatte? Fest steht nur, dass beide aus dem
rumänischen Siebenbürgen stammten. Siebenbürger Sachse aber waren auch die Rethers und
der jetzt 52-jährige Arno wuchs dort auf, bis die Familie in den 70er Jahren von der
Bundesrepublik freigekauft wurde.
Längst hat die exzellent verwobene Handlung eine ungeheure Sogwirkung entfaltet, wenn
Frieda und Arno einander begegnen und eines bald feststeht: ihre Mutter und sein Vater
sind auf dem Foto von 1941 zu sehen, das sie im KZ-Museum gefunden hat, und die beiden
wirken sehr fröhlich. War er der Liebste mit der anderen Hälfte des roten Halstuches,
den Sohn Arno nur als Schuldigen für den frühen Tod seiner Mutter in Erinnerung hat?
Auch die zuweilen schwankende Zuverlässigkeit kindlicher Erinnerungen erhält hier
einiges an Bedeutung.
Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen wie auch der Sowjet-Zeit des KZ Sachsenhausen
sind ebenso gewichtige wie bewegende Teile dieses Romans, der mit mit seinem grandiosen
Puzzle der Vergangenheitssplitter und der souveränen Dramaturgie exzellent komponiert
ist. Die dichte Atmosphäre, die ganz und gar glaubhaften Charaktere wie auch manche
überzeugende Wendungen machen aus diesem Werk einen Familienroman der besonderen Art, der
höchsten Ansprüchen gerecht wird und lange nachhallt.
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