HEINRICH AUGUST WINKLER:
GESCHICHTE DES WESTENS Band III
Gerade rechtzeitig zum 25. Jahrestag des Mauerfalls liegt nun Heinrich August Winklers
dritter Band seiner volumninösen Geschichte des Westens vor. Nach den
vorherigen Kompendien Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert
und Die Zeit der Weltkriege widmet sich der emeritierte Professor für Neueste
Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität der Zeitspanne Vom Kalten Krieg zum
Mauerfall.
Vorweggeschickt sei hier, dass Winkler mit dem Begriff Westen weniger den rein
geografischen Begriff meint als vielmehr die sogenannte westliche Wertegemeinschaft. Diese
normative Zuordnung bezieht sich insbesondere auf die Ideen der Amerikanischen und der
Französischen Revolution von 1776 und 1789 mit den Grundsätzen der unveräußerlichen
Menschenrechte sowie einer Demokratie nach den Prinzipien der Gewaltenteilung, der
Solidarität mit den Schwächeren sowie der Trennung von Kirche und Staat.
Gleichwohl ist Winklers Opus Magnum durch und durch Weltgeschichte und gerade für den
hier umfassetn Zeitraum vom Ende des Weltkriegs 1945 bis zur Auflösung der Sowjetunion
wird die Bipolarität zwischen Westen und Ostblock um so deutlicher. Als einer der
profiliertesten und renommiertesten deutschen Historiker geht er erneut in klassischer
Geschichtsschreibung streng chronologisch vor, schafft aber durch die
Parallelverflechtungen von Ereignisse und Entwicklungen, die zur selben Zeit stattfinden
und einander teils bedingen oder beeinflussen, eine hohe Dichte geballter Weltgeschichte,
die zu einer für ein wissenschaftlich untermauertes Sachbuch erstaunlichen Sogwirkung
beim Lesen führt.
Die mit Fakten und Details reich ausgestattete, strikte Gleichzeitigkeit der
nebeneinandergestellten und in Bezug zueinander gebrachten Themen machen die besondere
Qualität aus, denn dadurch erhalten die Schilderungen bei aller Lebendigkeit zusätzlich
das Niveau eines fundierten Nachschlagewerks. So sind zum Beispiel die großen Bewegungen
des unruhigen Jahres 1968 von den Studentenunruhen über die Hochzeit des Vietnam-Krieges
bis zum Prager Frühling und seiner Niederschlagung enger direkt oder indirekt miteinander
verknüpft, als es noch so ausführliche monothematische Bücher plastisch machen
könnten.
Doch so sehr Winkler auch scheinbar aus Sicht des Westens argumentiert, so kritisch geht
er mit eben diesem um. Wenn dies ungleich dezidierter wirkt und vordergründig fast in den
vielfach gescholtenen Anti-Amerikanismus zu münden vermeint, begründet er dies mit
zwingender Logik: von den USA, der NATO und dem Westen schlechthin wurde die
Fahne der westlichen Wertegemeinschaft hochgehalten, in vielfacher Weise jedoch mit
Füßen getreten. Von kommunistischer Seite oder von afrikanischen Diktatoren hatte man
die Beachtung der unveräußerlichen Menschenrechte dagegen gar nicht erst erwartet und
sie wurden von diesen auch kaum postuliert.
Die Beispiele solcher Sündenfälle insbesondere aus der Endzeit der Kolonialmächte
untersucht Winkler denn auch mit akribischer Unerbittlichkeit und stellt mit galligem
Resümee fest, dass gerade Franzosen und Briten die hohen normativen Werte in der Praxis
nur hochhielten, soweit sie es mit sogenannten zivilisierten Völkern zu tun hatten. Der
Ost-West-Gegensatz mit seinen Stellvertreterkriegen sorgte jedoch in Vietnam auch für die
USA dafür, dass sie ihre antikoloniale Unschuld verloren.
Aus heutiger deutscher Sicht am spannendsten zeigen sich jedoch die Passagen um die
Umwälzungen zwischen Westen und Ostblock von Willy Brandts Ostpolitik des Wandels
durch Annäherung über Gorbatschows Glasnost und Perestroika bis hin zum Verfall
von Eisernem Vorhang, Ostblock und Sowjetunion. Gerade in diesen Kapiteln erweist sich das
präzise angewandte Gleichzeitigkeitsprinzip als ebenso zielführend wie faszinierend, um
die ganze Wucht dieser sich immer unaufhaltsamer beschleunigenden historischen Entwicklung
als Gesamtbild zu umreißen.
Zu den bestechendsten Qualitäten auch dieses Bandes der Geschichte des
Westens zählt neben der schnörkellosen Sprache der Umgang Winklers mit Fakten und
Details: nichts Wichtiges lässt er weg und doch gelingt ihm eine von Entbehrlichem
entschlackte ganzheitliche Geschichtsdarstellung vom Feinsten. Wer die
Nachkriegsgeschichte in ihrer Gesamtheit kompakt und in ihren Zusammenhängen verstehen
will, findet hier das ebenso anspruchsvolle wie konkurrenzlose Standardwerk vor.
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