MICHAEL ZANTOVSKY: „VACLAV HAVEL“


Er selbst bezeichnete sich zwar selbstironisch als „angeblichen Helden und heimlichen Angsthasen“, doch die sogenannte Samtene Revolution, mit der in jenem weltbewegenden Herbst 1989 auch in der Tschechoslowakei das kommunistische System von über 40 Jahren in wenigen Wochen fast völlig friedlich überwunden wurde, ist ohne die charismatische Führungspersönlichkeit Vaclav Havel (1936-2011) so kaum vorstellbar.
25 Jahre danach liegt nun die erste große Biographie zu dem Bürgerrechtler unter dem Titel „Vaclav Havel. In der Wahrheit leben“ vor. Verfasst hat sie Michael Zantovsky, derzeit tschechischer Botschafter in London, einst jedoch ein enger Freund Havels und dessen Berater und Pressesprecher während dessen erster Präsidentschaftszeit von 1989 bis 1992. Um es vorwegzunehmen: trotz aller spürbaren Nähe und Sympathie gelingt es dem Autor, sich jeglicher Heldenverehrung zu enthalten.
So wichtig und mitentscheidend Havel für den Zusammenbruch der kommunistischen Staatssystem in Europa war, so bewegt war auch sein gesamtes Schicksal. Hineingeboren in bürgerlichen Wohlstand, musste er 1948 nicht nur erleben, wie die Familie enteignet wurde, er als bourgeoiser Sprössling durfte keinen höheren Schulabschluss anstreben oder gar studieren. Im stalinistischen Regime war ihm eine Arbeiterkarriere zugedacht.
Allerdings jobbte er schon als Teenager in Prag am Theater und entdeckte dabei früh sein literarisches Talent. Dem entsprangen bald die ersten satirischen Stücke und er entwickelte früh eine solche Meisterschaft, dass er zu einem Theaterstar wurde. Nur nicht in der Heimat, wo derartig entlarvend hintergründig Absurdes niemals auf die Bühne gedurft hätte. Im Ausland und hier besonders in der Bundesrepublik und in Österreich dagegen verdiente er sich jene Tantiemen, die ihm daheim ein erträgliches Leben erlaubten.
Mit seinem Werdegang und seinem unangepassten Denken allerdings war Haven prädestiniert für die Rolle des intellektuell aufbegehrenden Regimekritiker. Was ihm insgesamt rund fünf Jahre Gefängnis einbrachte, die seiner Gesundheit erheblich zusetzten. Doch weder das noch die erzwungenen Phasen als Hilfsarbeiter konnten ihn von der Führungsrolle abbringen, die ihm nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 immer mehr zukam.
Mit seiner Führungspersönlichkeit und seiner intellektuellen Brillanz wurde er nicht nur der Kopf der Opposition sondern vor allem auch einer der Väter der „Charta 77“, die Ende der 70er Jahre bis in die 80er Kern der Gegenbewegung wurde. Havel litt unter den Gefängnisstrafen, blieb jedoch unbeugsam mit seinen drei zentralen Konzepten von der Macht der Ohnmächtigen, dem Leben in der Wahrheit und in der Verantwortung.
Und dann beschreibt Zeitzeuge Zantovsky den Weg in den Sturz des tschechoslowakischen Kommunismus durch die von Studenten und Künstlern getragene Samtene Revolution, deren wichtigster Kopf Havel war. Es sind hochspannende Passagen, die den Übergang schildern, der den kleinen kettenrauchenden Dramatiker, der zuweilen wie der typische zerstreute Professor wirkte, Ende 1989 ins Präsidentenamt brachte – als ersten in freien Wahlen dahin Gelangten.
Doch Zantovsky zeigt auch den zivilen Havel, den Bohemien, der im Privatleben mit seinen unzähligen Affären und zeitweise zwei festen Partnerinnen neben Ehefrau Olga alles andere als ein moralisches Aushängeschild war. Dem stehen Havels gerühmte Eigenschaften von Verantwortungsbewusstsein, Disziplin und Fleiß nur scheinbar entgegen und in politischen Dingen war der für sich selbst bescheidene Künstler eine der wichtigsten moralischen Instanzen in der frischgebackenen Demokratie.
Die politischen Verdienste Havels wie die der Rückführung seines Landes in die Mitte Europas – eines seiner Herzensanliegen als Präsident – sowie die Mitgliedschaft in der EU und der NATO zählen zu den herausragenden Hinterlassenschaften. Als schmerzliche Niederlage hat er dagegen die „samtene Scheidung“ von Tschechischer Republik und Slowakei Ende 1992 empfunden, die er nicht verhindern konnte. Im Übrigen nennt der Biograph als größten politischen Fehler des Freundes, dass er 13 Jahre Präsident blieb und damit so lange, dass seine Popularität am Ende am Boden lag.
Michael Zantovsky hat eine großartige und würdige Biographie verfasst, die diesem leidenschaftlichen und schließlich erfolgreichen Bürgerrechtler in der ganzen Achterbahn eines außergewöhnlichen Lebens gerecht wird und ihn dabei vor allem auch sehr menschlich mit seinen Schwächen und Wirrungen im Privatleben zeigt. Fazit: eine längst überfällige Lebensbeschreibung, die sich zugleich geradezu romanhaft spannend liest.

# Michael Zantovsky: Vaclav Havel. In der Wahrheit leben (aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Hand Freundl); 680 Seiten, div. Abb.; Propyläen Verlag, Berlin; € 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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