THOMAS PYNCHON: „BLEEDING EDGE“


Bleeding Edge Technologien sind solche, die so neu und noch unerprobt sind, dass die Zuverlässigkeit für den Anwender nicht gegeben ist und er ein größeres Risiko bei der Nutzung eingeht. „Bleeding Edge“ hat nun US-Kultautor Thomas Pynchon seinen neuen, mittlerweile achten Roman überschrieben. Der beginnt im Frühjahr 2001 und reicht bis ins folgende Frühjahr.
Der seit Jahrzehnten quasi unsichtbar gebliebene Autor lebt mutmaßlich überwiegend in New York und da das Geschehen auch hier abläuft, spielt der Terrorangriff vom 11. September auf das World Trade Center natürlich eine wichtige Rolle. Aber nicht die einzige. Hauptakteurin ist die Privatdetektivin Maxine Tarnow – im Privatleben gluckenhafte jüdische Mutter für ihre beiden noch zur Schule gehenden Söhne – mit Schwergewicht auf Betrugsermittlungen, derzeit wegen unstatthafter Indiskretionen allerdings ohne Lizenz.
Das zwingt sie einerseits zu noch diskreterem Auftreten, andererseits bringen ihr gerade jetzt Auswirkungen der Krise um die geplatzte Dotcom-Blase spannende Aufträge, wo verdächtige Unternehmen schon mal Darklinear Solutions, DeepArcher oder hashlingrz.com heißen. Zentrum dieser Umtriebe ist die „Silicon Alley“, die IT-Hochburg in Manhattan, und mittendrin Milliardär Gabriel Ice, der dank skrupelloser Cleverness sogar noch vom Crash profitiert hat.
Doch Pynchon schreibt bekanntlich keine gradlinigen Krimis und entsprechend mäandert auch dieser Roman mit rasanten Wechseln und reichlich auftretendem, aber durchweg hinreißend eigenwilligem Personal hin und her. Maxine findet in der Trümmerlandschaft nach IT- und Immobilienchrash reichlich Ansätze für Schiebereien bis hin zu einem unfreiwilligen Todesfall. Für Nachschub an aufregenden Neuigkeiten sorgt unter anderem ein Fahrradkurier, der nicht nur unaufgefordert ihre Lieblings-Eiscreme bringt sondern auch brisante Datensätze.
Elektrisierend erscheint schließlich eine DVD, deren Aufnahmen zwei Männer auf einem New Yorker Wolkenkratzer zeigen, die mit einer Stinger-Rakete auf ein Flugzeug zielen. Zugleich hat ein Scharfschütze die Beiden im Visier, aber – weder die einen noch der andere drücken ab. Dann wiederum erhält Maxine Hinweise auf seltsame Geldflüsse in den Orient und das auch noch auf dem höchst klandestinen Weg des Hawala-Systems, das sich jeder normalen Kontrolle entzieht. Unterstützt Gabriel Ice etwa obskure arabische Kreise? Oder könnte er insgeheim im Auftrag der CIA handeln?
Maxine taucht tief ein, zugleich erweitert sich ihr Bekanntenkreis erheblich und dies eher auf die nicht erfreuliche Weise. Ganz nebenher wird die Trennung von Ehemann Horst wohltuend in all ihrem chaotischen Treiben unterbrochen. Ohnehin passiert so irrsinnig viel und werden immer neue Fährten gelegt, die sich als irreführend erweisen, dass es zuweilen nur schwer gelingt, diesen sich verwirrenden Handlungssträngen zu folgen. Und das gilt dann auch, nachdem 9/11 über New York hereingebrochen ist, zu dem Maxines Freundin Heidi bald feststellt: „Der 11. September hat dieses Land zum Kleinkind gemacht.“
Selbstverständlich lässt sich ein Thomas Pynchon die Chance wilder Verschwörungstheorien nicht entgehen, wo er entgegen all den herrlich skurrilen Passagen und der spielerischen Ziellosigkeit plötzlich einen herben, tiefernsten Unterton anklingen lässt. Ohnehin muss man staunen über die vielen hochaktuellen Themen und Aspekte dieses Romans, denn Pynchon ist inzwischen 77 Jahre alt, aber offensichtlich ganz und gar auf der Höhe der Zeit. Und das bis zur Hellseherei: das Buch kam 2013 auf den Markt und darin wird das geniale Internet-Spähprogramm „Promis“ an die NSA (National Security Agency) verkauft – von dem realen PRISM-Programm und einem gewissen Edward Snowden konnte er da noch nichts wissen!
Fazit: ein komplexes Stück Literatur, von mittlerer Geschwindigkeit und immer wieder in die Irre führend, und dennoch faszinierend mit funkelnden Dialogen, intellektueller Brillanz und allerhand anarschischem Humor – eine großartige Herausforderung für Leser mit Sinn für das Besondere.

# Thomas Pynchon: Bleeding Edge (aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren); 605 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 29,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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