LISA BALLANTYNE: DER
SCHULDIGE
Als Strafverteidiger in London hat Daniel Hunter schon manchen jugendlichen Gewalttäter
verteidigt und er gilt als einer der erfolgreichsten seines Faches. Nun aber geht es um
den erst elfjährigen Sebastian, der seinen achtjährigen Spielkameraden Ben in einem Park
brutal erschlöagen haben soll. Da in England die Strafmündigkeit mit zehn Jahren
einsetzt, droht ihm jetzt also eine Mordanklage.
Damit beginnt Lisa Ballantyne ihren Debütroman Der Schuldige und es sei
vorweg gesagt: dies ist kein Kriminalroman, vielmehr geht es um Schuld und andere
quälende Seelenabgründe. Sebastian erweist sich als seltsamer Junge mit morbiden
Interessen, verletzlich und zugleich merkwürdig altklug. Seine Geschichte und seine
Persönlichkeit aber spülen bei dem 35-jährigen Anwalt bald schon starke Erinnerungen an
die eigene schlimme Kindheit hoch.
Und ausgerechnet jetzt erfährt er, dass Minnie Flynn gestorben ist, ohne die er
vermutlich in der Gosse gelandet wäre. Ähnlich Sebastian war er in Kindertagen ein
Entwurzelter, der überall aneckte und sich brutal wehrte. Allerdings wuchs Hunter in
völlig anderen Verhältnissen auf als sein jetziger Mandant. Seine verkommene Mutter bot
ihm keinen Halt und zugleich musste er miterleben, wie er von ihren wechselnden Liebhabern
geschlagen wurde.
Erst als ihn nach etlichen gescheiterten Anläufen Minnie bei sich aufnahm, die auch
Schweres durchgemacht hatte, ihm nun aber erstmals ein Gefühl von Wärme und familiärer
Geborgenheit vermittelte, kam er in ruhigeres Fahrwasser. Immerhin brachte diese in sich
ruhende Frau bis zum Studium. Bis es zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen kam wegen eines
mutmaßlichen Verrats, das Hunter so schwerwiegend erschien, dass er jegliche Verbindung
zu ihr abbrach. Jahrelang bemühte sie sich um einen Kontakt und nun war sie gestorben.
Während er immer tiefer in den Fall des Elfjährigen eintaucht, an dessen Unschuld er
glaubt, brechen bei ihm alte Wunden auf, jedoch immer mehr auch Schuldgefühle und die
ohnmächtige Erkenntnis, jegliche Gelegenheit zum Verzeihen und um Vergebung zu bitten
verpasst zu haben. In wechselnden Kapiteln wird zugleich die so ähnliche malträtierte
See Sebastians offenbar, wenngleich er keineswegs aus prekären Verhältnis stammt. Dass
er zum Rabauken oder gar zum Mörder geworden ist, war mutmaßlich einer des öfteren
verprügelten Mutter mit Angstzuständen und dem hartherzigen arroganten Vater zu
verdanken.
Insbesondere die psychologischen Einsichten in die gestörten Kinderseelen und das
Gerichtsverfahren fesseln hier auf subtile Weise. Für Hunter verschwimmen dabei immer
mehr die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld und nicht nur deshalb wirft dieser ruhig
erzählte, anspruchsvolle Roman auch massiv die Frage auf, ob eine Strafmündigkeit mit
zehn Jahren zu rechtfertigen ist.
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