VERA KISSEL: WAS DIE WELLE
NAHM
Beneidenswert: zwei Wochen sturmfreie Wohnung in Berlin, als die Mutter mit ihrem neuen
Freund zum Urlaub am Bodensee fährt. Für den 14-jährigen Lukas heißt das Ausschlafen,
täglich Schwimmen gehen und kleine Touren mit seinem schon etwas älteren Freund Birol zu
machen, der zu allerlei Kleingaunereien neigt.
Getrübt werden diese Sommerfreuden jedoch durch die allnächtlichen Albträume von der
Riesenwelle, in der er untergeht. Und diese Träume haben ihren Grund, denn zehn Jahre ist
es nun her, dass sein Vater im Dezember 2004 in der Tsunami-Katastrophe im fernen Thailand
umkam. Und um diesen Vater geht es auch in dem packenden Jugendroman Was die Welle
nahm, mit dem Autorin Vera Kissel für den Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt
Oldenburg nominiert war. Nie hat sich Lukas wirklich damit abfinden können, dass weder
seine Mutter noch seine Großeltern seither von dem Verstorbenen gesprochen und jegliche
Fragen abgeblockt haben.
Es kommt dem ohnehin von den Gefühlsschwankungen der Pubertät geplagten Jungen fast vor,
als habe es den Vater nie gegeben. Nirgends ein Foto, keinerlei Hinterlassenschaften und
diese unüberwindliche Anonymität. Bis Lukas einen versteckten Brief findet von
Vaters neuer großen Liebe Kim an die Mutter. Sofort macht er sich auf die Suche, vor
allem in der Hoffnung, endlich etwas von der Person seines Vaters zu erfahren.
Der Schock, der ihn dann jedoch erwartet, wirft ihn völlig um, denn er findet die Adresse
von Kim, das aber ist ein Mann! In seiner totalen Verwirrung aus Verzweiflung und
Hass besäuft er sich bis zum Filmriss. Und wird schließlich von der Polizei genau zu
diesem Kim gebracht, dessen Adresse er als einziges immer wieder gelallt hat. Das
Kennenlernen wird allerdings ungeheuer schwierig, denn Lukas gibt dem an sich
sympathischen Kim nicht nur die Schuld am Tod seines Vaters, er muss ja auch die
schockierende Erkenntnis von der Homosexualität des Vaters erst einmal verdauen.
In ganz kleinen Schritten gelingt jedoch eine Annäherung und erstmals bringt ihm dieser
verständnisvolle Mann seinen Vater näher, spricht über dessen Wesen und vor allem hält
der bis dahin quasi vaterlose Junge endlich Fotos von dem so schmerzlich Vermissten in der
Hand, ja sogar ein paar vom Vater mit dem noch kleinen Sohn. Um so heftiger geraten dann
aber Lukas und seine Mutter aneinander, als diese bei der Heimkehr von den Begegnungen
erfährt.
In dieser aufwühlenden Situation erweist sich vor allem der etwas dubiose Birol als
echter Freund und man darf es vorwegnehmen: es gibt ein Happyend, das ähnlich wie die
gesamte Geschichte wohltuend realistisch ausfällt. Ohnehin gelingt es der Autorin mit
viel Einfühlungsvermögen, die aufwühlenden Emotionen dieses Romans durch die kurzen,
oft abgehackten Sätze des Ich-Erzählers Lukas spürbar zu machen. Seine Gedanken und
Gefühle lassen diese Prosa, die ja nicht von übermäßig viel Handlung sondern von der
inneren Achterbahn lebt, regelrecht vibrieren.
Fazit: ein großartiges und sehr direkt erzähltes Jugendbuch zu einem recht
ungewöhnlichen und dennoch lebennahen Thema, das nicht nur Teeanger sondern auch
Erwachsene in seinen Bann schlagen dürfte.
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