DIEGO
MARANI: NEUE FINNISCHE GRAMMATIK
Triest im September 1943, auf dem vor Anker liegenden Lazarettschiff Lübeck
erwacht ein Schwerverletzter nach tagelangem Koma, doch er hat Sprache und Gedächtnis
verloren. Einer der Ärzte aber, Petri Friari, entdeckt neben einem Taschentuch mit den
Initialen SK in der Jacke des jungen Mannes auch den eingestickten Namen Sampo
Karjalainen. Woraus der selbst aus Finnland stammende Friari den Schluss zieht,
einen Landsmann vor sich zu haben.
Was der Arzt nun unternimmt und was dabei herauskommt, erzählt Diego Marani in seinem
bereits preisgekrönten Roman Neue finnische Grammatik. Mit viel Mühe bringt
der Mediziner seinem Schützling nun einige Brocken der bekanntermaßen äußerst
komplizierten Sprache bei. Schließlich sorgt er sogar dafür, dass der Patient, der sich
noch immer sehr fremd ist und erst mühsam auf Finnisch radebrechen kann, per Schiff nach
Helsinki transportiert wird. Auch in Finnland herrscht noch Krieg und während die
deutschen Verbündeten abziehen, greift die Rote Armee immer massiver an.
Karjalainen aber stromert zunächst durch die Stadt auf der Suche nach Erinnerungen, doch
als er auf eine Familie trifft, die einen Sohn mit seinem Namen vermisst, gibt es auf
beiden Seiten keinerlei Erkennen. Um so wichtiger werden nun die Rot-Kreuz-Schwester Ilma
und Pastor Koskela, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihn intensiv in die Kultur des
Landes einweiht. Hier lernt der in sich Verlorene, dass Sampo ein geradezu magisches Wort
ist, denn im finnischen Nationalepos Kalevala steht es für ein Mysterium,
könnte eine Säule der Erde oder ein heiliges Gefäß gewesen sein.
Niemand weiß es genau, denn der Sage nach wurde es zerstört. Karjalainen hört von
Koskela nicht nur die gesamte Sage in einer Kurzform, der leidenschaftliche Pastor macht
ihm auch Hoffnung: Wenn du erst das Kalevala lesen kannst, wirst du ein echter Finne
sein. Gleichwohl fühlt er eine große Leere in sich, die auch die Sprache, mit der
er doch aufgewachsen ist, nicht ausfüllen kann. Entstammt er überhaupt einer finnischen
Mutter und ist dies seine von ihr einst erlernte Sprache? Und es ist auch diese
Hilflosigkeit und Verwirrung, die ihn den Annäherungsversuchen Ilmas ausweichen lässt,
die ihm hinreißende Briefe schreibt.
So wie dieser bewegende Roman von einer tiefen Traurigkeit durchzogen ist, so traurig
endet er auch. Und wenn man dann fragt, wieso ein italienischer Autor ausgerechnet diese
für Nichtfinnen nahezu unerlernbare Sprache erwählt hat: Marani arbeitet hauptberuflich
als Multilinguist für die Europäische Kommission in Brüssel und erfand auch die
Fantasiesprache Europanto. Fazit: seine hier niedergeschriebene meisterhafte Gratwanderung
entlang der Grenze von Sprache und Identität fasziniert mit einem dunklen Zauber der
Verlorenheit.
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