FIONA McFARLANE: „NACHTS, WENN DER TIGER KOMMT“


Als Ruth Field eines Nachts erwacht, ist sie sich sicher, dass dort ein Tiger in ihrem Haus am Meer herumschleicht. Nun gibt es im australischen New South Wales keine freilaufenden Raubkatzen und die 75-jährige Witwe vermutet eine Einbildung. Oder ist es Vorbote vom Kommen einer realen großen Gefahr?
Damit beginnt Fiona McFarlanes Debütroman “Nachts, wenn der Tiger kommt“ und die nächtliche Ahnung bekommt etwas Reales, denn am anderen Morgen erscheint Fiona Young. Die wuchtige Frau platzt unangemeldet in Ruths Leben und stellt sich als staatliche Betreuerin vor, von jetzt an zuständig für Putzen, Kochen und dergleichen. Als Ruth Jeffrey, einem der beiden im Ausland lebenden Söhne, davon am Telefon erzählt, schwankt der zwar zwischen Misstrauen und Erleichterung, letztere aber gewinnt schnell die Oberhand.
Frida macht sich umgehend sehr nützlich und erinnert Ruth zudem mit ihrem dunklen Hautton stark an ihre Jugend auf den Fidschi-Inseln, wo die Eltern in einer Missionsstation arbeiteten. Und dort erlebt sie auch ihre erste große, wenngleich unglückliche Liebe zu Richard. Zu dem sie nun nach über 50 Jahren der Trennung wieder einen Kontakt aufnimmt, der herzlich und intensiv wird. Im Haus aber übernimmt Frida immer mehr das Regiment, regelt bald auch Ruths Bankgeschäfte und sorgt für eine Steigerung der ohnehin starken Isolation der gebrechlichen alten Dame.
Zunehmend wird diese sich ihrer Hilfsbedürftigkeit bewusst und ihre Vergesslichkeit macht sie anfällig für Manipulationsversuche. Dass ihr das ins Bewusstsein rückt, steigert die Verunsicherung noch und auch der Leser, der alles nur aus der Sicht Ruths erfährt, fühlt sich auf schwankendem Boden. Der kürzliche Tod ihres Mannes, das schwere Rückenleiden und das Alleinsein haben sie verletzlich gemacht und die Frage wird immer drängender: bedeutet Frida Schutz oder Gefahr? Es ist diese unheilvoll wirkende Mischung aus allerlei Lügen und kleinen aber bedeutsamen Wahrheiten, die berühren und ängstigen.
Beschwor die ohnehin schwebende und häufig zwischen Illusion und Realität schwankende Atmosphäre bisher schon ein Gefühl, als umgebe Ruth ein Urwald, in dem ein Tiger kein Fremder wäre, kippt die Situation vollends ins subtil Verstörende, als Ruth entdeckt, dass die dominante Pflegerin heimlich in ein nicht benutztes Schlafzimmer in ihrem Haus eingezogen ist. Und es bleibt zu ahnen, ob ihre Verwirrung nur eine beginnende Demenz anzeigt oder ob der immer wieder auftauchende Tiger einen Übergang ankündigen soll.
Fiona McFarlane hat mit diesem langsam und dennoch mit feinfühliger Sogwirkung erzählten Roman dank der kurzen Sätze und der klaren Sprache eine herausfordernde Rätselhaftigkeit geschaffen. Was leicht zu Sentimentalität oder gar Kitsch hätte abdriften können, wird hier gerade auch dank der Distanz zur eigentlichen Handlung zu einem anspruchsvollen Lesevergnügen.

# Fiona McFarlane: Nachts, wenn der Tiger kommt (aus dem Englischen von Brigitte Walitzek); 333 Seiten; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 19,99


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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