ANNE von CANAL: „DER GRUND“


Anne von Canals Debütroman „Der Grund“ beginnt mit dem Funkverkehr zwischen zwei Schiffen, von denen eines offenbar in großer Bedrängnis ist. Wenn die Geschichte schon bald in gänzlich andere maritime Gefilde umschwenkt, sollte der Leser diesen Einstieg jedoch nicht vergessen, so wenig er mit Tagebuchaufzeichnungen des Bordpianisten Lorenzo auch zu tun haben scheint.
Hier reflektiert der frustrierte Mittvierziger sein banales Leben auf einem Kreuzfahrtschiff. Dann wechseln Zeit und Szenerie völlig und Erzähler ist Laurits Simonsen, der Kindheit und Jugend in einem der vornehmsten Viertel Stockholms durchlebt. Mag der ebenso autoritäre wie unnahbare Vater ihm auch Furcht einjagen, die arg überspannte Mutter bemüht sich um den Schein einer funktionierenden Familie der Oberklasse.
Eine Wohltat ist dagegen die enge Freundschaft mit dem Nachbarjungen Pelle, mit dem Laurits durch dick und dünn geht. Und das Klavierspielen, das die Mutter wegen ihrer eigenen Liebe zur Musik stark unterstützt. Fräulein Andersson kommt ins Haus und aus dem strengen Unterricht auf dem edlen Flügel erwächst eine Leidenschaft, die den Heranwachsenden zum erklärten Unwillen des Vaters, der als angesehener Mediziner nichts für Musisches übrig hat, zu solchen Qualitäten bringt, dass es für ihn nur ein Berfusziel geben kann, das eines Konzertpianisten.
Als er mit 18 die Aufnahme am hochkarätigen Konservatorium anstrebt, stellt der ungnädige Vater eine Bedinung: sollte die Aufnahmeprüfung misslingen, muss sich der Sohn dem Willen des Vaters zu einem Medizinstudium beugen. So spielt Laurits gewissermaßen um seine Leben und die Schilderung, mit welcher Hingabe und Meisterschaft er dies tut, lassen den Schock als um so niederschmetternder empfinden, als das Urteil der Jury schließlich lautet: durchgefallen!
Der Leser ahnt längst, dass Unterhaltungspianist Lorenzo und Laurits Simonsen dieselbe Person sind. Was sich in den wechselnden Erzählperspektiven aber entwickelt, öffnet allmählich den Blick auf ein Leben, das einen so ganz anderen Weg als den als richtig angesehenen nimmt. Wenngleich sich Laurits nicht nur in das offenbar Unvermeidliche fügt und sogar mit gutem Erfolg studiert. Ein kleines Schnippchen schlägt er dem Vater, indem er dessen Wünschen zur Chirurgie die Wahl der Gynäkologie entgegensetzt.
Zur Zufriedenheit mit dem neuen Weg trägt auch Silja bei, seine große Liebe, und bald auch Tochter Liis. Bis es zu einer fatalen Familienfeier kommt anlässlich des zehnten Hochzeitstages. Überraschend überlässt der selbstherrliche Vater Laurits' Lieblingsonkel Jon die Festtagsrede. Und es kommt zum Eklat, als der dabei geradezu beiläufig einen unfassbaren Sumpf dunkler Geheimnisse freilegt, der dem jetzt 34-jährigen Familienvater völlig den Boden unter den Füßen wegreißt.
Es waren Machenschaften des Vaters, die Laurits damals bei der eigentlich brillant absolvierten Aufnahmeprüfung scheitern ließen. Und er erfährt, dass nicht nur sein Leben auf arroganten Lügen aufgebaut war. Auch die Mutter hat ihn verraten, sie, von der er erstmals hört, dass sie bei ihrer Hochzeit gezwungen wurde, eine vielversprechende Karriere als Sängerin aufzugeben.
Laurits zieht drastische Konsequenzen, indem er jeden weiteren Kontakt zu seinen Eltern ablehnt und stattdessen – unter dem Protest von Tochter Liis – mit Silja deren einst aus Estland geflüchteten Eltern bei deren Heimkehr in das jetzt unabhängig gewordene Land folgt. Doch dem Fluch des unverschuldeten Unglücks kann er auch hier nicht entfliehen und nun erkennt man, dass der Funkverkehr vom Beginn des Romans der der „Estonia“ war, die am 28. September 1994 mit fast 900 Menschen in der stürmischen Ostsee unterging.
Mit Tochter Liis an Bord, die allein zu Oma Simonsens 60. Geburtstag fahren wollte. Was schließlich den Rest von Familienglück zerstört: „Es ist grausam, wie schnell eine Liebe vergeht, wenn die Trauer nicht dieselbe Sprache spricht.“ Doch selbst, ob es dem vagabundierenden Lorenzo beschieden ist, sich eines Tages doch noch mit dem Schicksal zu versöhnen, bleibt in diesem feinfühlig aber nie gefühlig verfassten Roman auf beklemmende Weise im Ungewissen. Psychologisch schlüssig und mit großer Sprachkunst und exzellent gezeichneten Charakteren erzählt, ist Anne von Canal ein meisterliches Debüt gelungen.

# Anne von Canal: Der Grund; 272 Seiten; Mare Verlag, Hamburg; € 20

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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