JÖRG FRIEDRICH: „14/18“

 
Mag der britisch-australische Historiker Christopher Clark mit seinem Opus Magnum „Die Schlafwandler“ auch das herausragende Standardwerk zum Ersten Weltkrieg geschrieben haben, so legt sein deutscher Kollege Jörg Friedrich zur 100-jährigen Wiederkehr des Kriegsausbruchs ein wichtiges Komplementärwerk vor.
Wo sich Clark in exzellenter Analyse und mit immer neuen verblüffenden Schlüssen dem Warum und insbesondere der Kriegsschuldfrage nachgeht, wirft der für seine unbequemen und auch unkonventionellen Fragestellungen bekannte – und bei manchen Wissenschaftskollegen umstrittene – Friedrich in seinen gewichtigen, fast allumfassenden Schilderungen des Krieges eine Vielzahl provokanter Fragen auf, wie sie noch nie gestellt wurden. Das aber mit geradezu aufregenden Ergebnissen in seinen fundierten Schlussfolgerungen.
„14/18 – Der Weg nach Versailles“ lautet der Titel und der Autor vernachlässigt die Frage der Kriegsschuld weitgehend, steht aber spürbar auf der Linie Clarks, der die alleinige Kriegstreiberrolle Kaiser Wilhelm II. ja weitgehend widerlegt hat. Friedrich weist sogar darauf hin, dass „Wilhelm Zwo“ in seinen 26 Jahren Regentschaft bis zum Juli 1914 keinen einzigen Krieg geführt hat, von der militärischen Beteiligung auf westlicher Seite am chinesischen Boxer-Aufstand mal abgesehen.
Kriegsverbrechen und Gräueltaten gab es seitens aller Kriegsführenden, den Deutschen aber unterlief ein folgenschwerer Fehler, als sie zu Kriegsbeginn das neutrale Belgien überfielen und es wegen zivilen Widerstands brutale Vergeltungsmaßnahmen gab. Das nun dauerhafte heraufbeschworene Bild der „Hunnen“ entfaltete als Propaganda bis Kriegsende eine fatale Wirkung. Doch der Autor schildert in dem Tausendseiter nicht nur ebenso detailliert wie fesselnd die vielen Schauplätze und die politischen Vorgänge, er hinterfragt all das mit messerscharfer Logik.
So stellt er klar, wie sehr die Pläne und Illusionen, die bis Kriegsausbruch währten, bereits bis Ende 1914 allesamt Makulatur waren. Manche Thesen scheinen gewagt, doch Friedrichs Analysen sind einleuchtend und fast immer auch schlüssig. Danach hätten eigentlich alle Seiten Grund gehabt, bei diesem Stand der Dinge einen Frieden auszuhandeln. Allerdings stand dem bereits die Entwicklung des „Gut-Böse“-Schemas entgegen: wer hätte mit diesen „Hunnen“ und „Barbaren“ einen Frieden schließen wollen?!
Wichtig bei Friedrichs Vorgehen der Kriegsbeschreibung ist aber auch, dass er den oft zu Unrecht vernachlässigten östlichen Kriegsschauplatz zuerst angeht, denn hier war das Zarenreich der Angreifer, der als erster zuschlug und nur mit Mühe gestoppt werden konnte. Und die Donaumonarchie geriet gegen diesen starken Gegner sogar in sehr ernste Schwierigkeiten. Auch andere, meist weniger beachtete Fronten werden beleuchtet und Friedrich kritisiert, dass viele Historiker den Ersten Weltkrieg zu einseitig über die Westfront definieren.
Hier wiederum stellt er etliche verblüffende Thesen auf über den Kriegsverlauf, bei dem das zahlenmäßig unterlegene Kaiserreich gleich mehrfach den Krieg so gut wie gewonnen hatte. Das war 1915 nach der Flandernschlacht so, 1916 gab es sogar eine gefährliche Meuterei der französischen Soldaten gegen den menschenverachtenden General Nivelle, doch – das deutsche Militär bemerkte nicht, dass die Front quasi wie ein offenes Scheunentor zur einer mutmaßlich kriegsentscheidenden Invasion lockte.
Gänzlich ungnädig geht der Historiker die Qualitäten, das teils unfassbare Versagen, unglaubliche Irrtümer und die politischen Haltungen der wichtigsten Heerführer und Staatenlenker an. Hier analysiert er sogar die Motivation der USA für ihren Kriegseintritt 1917 als ganz vorrangig ökonomisch, wenngleich verbrämt mit demokratischen Idealen. Die Quintessenz des Kriegsverlaufs im Jahr 1917 schließlich bringt Friedrich zu der ebenso überraschenden wie naheliegenden Schlussfolgerung: „Deutschland hatte den Krieg gewonnen, hat es aber nicht bemerkt.“
Die Begründung ist bestechend, schließlich war der Zweifrontenkrieg durch die Niederlage Russlands beendet und die entsprechenden Truppenverstärkungen an der Westfront veränderten die Situation gravierend. Weit und breit fand sich jedoch niemand, diese Chance für einen Verhandlungsfrieden zu nutzen, zum Beispiel unter Aufgabe Elsaß-Lothringens seitens des Deutschen Reichs. Allerdings wäre trotz der Kriegslage wohl auch keiner der Kriegsgegner bereit gewesen, mit den „Hunnen“ zu verhandeln. Auch und gerade wegen deren noch immer vorhandener militärischer und industrieller Stärke.
Der dann aufgezwungene Friedensvertrag war aus Rache und Revanchegelüsten entstanden und Friedrich muss gar nicht beschreiben, wie sich eine Demütigung wie im Versailler Frieden von 1919 auswirken musste. Er legt den Finger immer wieder in gern übertünchte Wunden und demaskiert die Gut-Böse-Einordnung. Die Art seines Vorgehens und die zuweilen durchaus eigenwillige aber stets stringente Argumentationsweise mag insbesondere manchem Historiker nicht gefallen, sie führt so jedoch zu wohltuend unverstellten Blickwinkeln.
Geschrieben ist das faktenreich, wissenschaftlich außerordentlich fundiert und dazu sehr lebendig. Verfasst insbesondere für den interessierten Laien, sind für den ganz großen Genuss gewisse Vorkenntnisse aber unbedingt zu empfehlen. Fazit: ein ungemein wertvoller Beitrag zur Betrachtung und Analyse des Ersten Weltkriegs, der dort weiterführt, wo Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ aufhört.

# Jörg Friedrich: 14/18 – Der Weg nach Versailles; 1078 Seiten; Propyläen Verlag, Berlin; € 34,99


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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