MATTHIAS KEIDTEL: „KARAOKE FÜR HERTA“


Norbert Grützke ist 70 Jahre alt, lebt allein wie eh und je und seine Zweizimmerwohnung ist seit Jahrzehnten das Hauptquartier seiner Existenz. Über 40 Jahre war er als kaufmännischer Angestellter für Schrauben, Haken und dergleichen zuständig und der Quell seiner privaten Zufriedenheit ist daheim seine große Sammlung von Fernsehturm-Modellen.
Gestört wird sein beschauliches Alltagseinerlei nur durch einen Umstand – dass Mutter Herta ihn bis heute nicht vom Haken gelassen hat. Täglich ruft sie ihn an und gibt ihm Anweisungen und Zurechtweisungen wie einem Schuljungen. Hat Norbert das bisher mit seiner ebenso lethargischen wie ängstlichen Art hingenommen, naht jetzt jedoch die Katastrophe: Mutter will Ordnung in sein Leben bringen und dafür zieht sie zu ihm.
Ob und wie Norbert aus diesem Desaster einen Ausweg findet, davon erzählt Matthias Keidtels jüngster Roman „Karaoke für Herta“. Schnell versteht man Norberts Verzweiflung, denn Mutter ist zwar schon 89, aber eine resolute Schauspielerin, die ihr Leben lang eine Frau spielte, die sie aus tiefstem Herzen bewunderte. Immer schon ein Paradiesvogel in ihrem Auftreten, erfreut sie sich auch jetzt noch eines attraktiven Aussehens und einer recht regen Libido.
Für Norbert gibt es sofort nur noch einen Wunsch, den nach einem anderen Leben, in dem Mütter keine Rolle mehr spielen. Ein gewöhnlicher alter Mann sein dürfen, das wäre so schön, doch Mutter tut alles, um genau das zu verhindern. Und verkuppeln will sie ihn noch obendrein und natürlich sucht sie selbst Anwärterinnen aus wie die viel jüngere russische Zahnärztin Jekaterina. Man leidet wahrlich mit, wenn Mutter ihn sogar fortlockt und in seiner Abwesenheit seine geliebte Fernsehturm-Modellsammlung entsorgt.
Die Flucht ins Krankenhaus, zu einer Psychotherapeutin, ja selbst eine von ihm angezettelte Entführung hilft nichts. Zumal die beiden angeheuerten Libanesen Mutter entnervt wieder bei ihm abliefern. Allerdings macht Herta ihm dann einen hintersinnigen Vorschlag: wenn er eine passende Frau findet, zieht sie bei ihm aus. In dieser Zwangslage entdeckt Norbert, dem die Mutter als junger Mann den Traum vom Singen in einem Chor ausgetrieben hat, die Ankündigung zum 1. Deutschen Karaoke-Wettbewerb, an dem jeder teilnehmen kann.
Wie und warum seine Teilnahme daran die Lösung aller Probleme bedeuten könnte, das sei hier nicht verraten, denn spannend und abwechslungsreich bleibt dieser hinreißend witzige Roman bis zuletzt. Bis zum Happyend hat der Leser vom Dauerbeschuss mit skurrilen wie auch beißend komischen – und oft genug sehr lebensnahen – Schilderungen längst Lachmuskelkater.
Das Alles ist herrlich schräg mit Charakteren, deren Glaubwürdigkeit durch die Überzeichnung sogar noch gewinnt. Bleibt ein dringender Wunsch: diese herrliche Anti-Ödipus-Geschichte muss unbedingt verfilmt werden.

# Matthias Keidtel: Karaoke für Herta; 254 Seiten, Klappenbroschur; Rütten und Loening Verlag, Berlin; € 14,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)


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