OWEN MATTHEWS: „WINTERKINDER“


Seinen Bericht über rund 80 Jahre Familiengeschichte beginnt Owen Matthews mit einer zerfledderten Akte in einer ehemaligen KGB-Zentrale. Fein säuberlich ist dort Aufstieg und Fall seines russischen Großvaters Boris Bibikow dokumentiert, glühender Kommunist mit steiler Karriere und dann die Säuberungsaktionen Stalins, denen der Linientreue trotz aller Verdienste zum Opfer fällt.
„Winterkinder“ ist das Buch überschrieben, der Originaltitel „Stalin's Children“ trifft es jedoch ungleich genauer. Denn genau davon berichtet Matthews, der Enkel Bibikows, anhand der Schicksale seiner Großmutter und ihrer Töchter, deren jüngere die Mutter des Autors ist, sowie von der leidvollen Liebesgeschichte seiner Eltern. Deren Verhältnis empfand er weder als herzlich noch als glücklich. Bis er als Erwachsener in einem Überseekoffer auf dem Dachboden im Londoner Elternhaus hunderte von Liebesbriefen der Beiden findet.
Sie eröffnen ein Schicksal, das ungeheuer viel Exemplarisches offenbart. Der junge Wissenschaftler Mervyn Matthews lernte in Moskau Ludmilla „Mila“ Bibikowa kennen und die kurze Zeit des innigen Glücks in Winter und Frühjahr 1964 sollte in eine Eheschließung münden. Doch der harmlose Waliser wurde unversehens deportiert und die Gründe lagen auf der Hand. Er hatte den drängenden Anwerbungsversuchen des KGB kategorisch widerstanden.
Für die Liebenden brach eine fast sechsjährige Leidenszeit der Trennung an, in der sie sich unzählige Briefe schrieben, die oft bis kleinste Details auf Befindlichkeiten und Tagesereignisse eingingen. Während er sich daheim die angelaufene Karriere verdarb, weil er sein Buch über die Sowjet-Jugend zurückzog, um Mila vor Repressalien zu schützen, lebt sie in Moskau in kargen Verhältnissen. Was aber nichts Ungewohntes für sie war, wie man aus den Briefen erfährt.
Wegen Vaters Fall in Stalins Ungnade wurde die gesamte Familie in Sippenhaft genommen. Ehefrau Marta landet im berüchtigten Gulag, aus dem sie erst nach elf Jahren als Wrack entlassen wird. Mila und ihre Schwester wanderten in Waisenhäuser und werden schließlich sogar getrennt. Dass sie sich trotz einer schlimmen Odyssee, die bei Mila durch Tbc einen dauerhaften Hüftschaden hinterlässt, als Erwachsene wiederfinden, gehört zu den wenigen Glücksmomenten in ihrem ansonsten nicht vorhandenen Familienleben.
Bis zur Begegnung mit Mervyn hat sich Mila trotz allem bis zur Wissenschaftlerin am Marxistisch-Leninistischen Institut hochgekämpft. Die Beiden verbindet aber nicht nur die leidenschaftliche Liebe, sondern ebenso eine intensive Seelenverwandtschaft, denn auch er hatte eine niederdrückende Kindheit und ebenfalls eine Körperbehinderung. Wie sie bei all den Schikanen inmitten des Kalten Krieges dennoch zusammenkommen und in England heiraten, ist romanhaft dramatisch.
Das wirklich Aufwühlende dieser Familiengeschichte sind jedoch die Drangsale, die die Protagonisten durch die Demütigungen und die unfassbare Menschenverachtung von NKWD bzw. KGB insbesondere in der Stalin-Ära ausgesetzt waren. Wenn dann die erzwungenen Loblieder der entwurzelten Kinder auf „Väterchen Stalin“ der völligen Rechtlosigkieit entgegenstehen, ahnt man, wie authentisch die bedrückenden Romane von Pasternak und Solschenyzin tatsächlich waren.
Wenn der 1971 in Freiheit geborene Sohn von Mila und Mervyn selbst beruflich in den 80er und 90er Jahren in Russland arbeitet und wie der Vater eine Russin heiratet, führt er die Geschichte weiter bis ins moderne Russland. Zugleich gibt er einen kleinen Blick frei in das, was man „die russische Seele“ nennt. Fazit: ein großartiger Familienroman aus drangvollen Zeiten, der jedoch durch und durch keine Fiktion ist und deshalb um so mehr fesselt und unter die Haut geht.

# Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg (aus dem Englischen von Vanadis Buhr); 392 Seiten; Graf Verlag, München; € 22,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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