DONNA TARTT: DER
DISTELFINK
Donna Tarrt ist eine Magierin der Literatur, doch sie fordert Geduld für Meisterwerke wie
Die geheime Geschichte und Der kleine Freund. Nun liegt nach
weiteren gut zehn Jahren ihr erst dritter Roman vor und es sei vorweg gesagt: ein Buch
mindestens so grandios wie die beiden vorherigen Welterfolge.
Der Titel Der Distelfink rührt her von dem gleichnamigen kleinen Juwel der
Malerei des 17. Jahrhunderts, das Carel Fabritius, ein Schüler Rembrandts, 1654 malte.
Noch im selben Jahr verstarb er jung bei der Explosion einer Schießpulverfabrik. In New
York vor über zehn Jahren gewann das unschätzbar wertvolle Gemälde eine zentrale
Bedeutung für den 13-jährigen Theo Decker und wieder gab es einen explosiven
Ausgangspunkt.
An einem Apriltag besucht Theo mit seiner kunstliebenden Mutter das Metropolitan Museum,
wo sie eine Ausstellung mit Bildern des sogenannten Goldenen Zeitalters bewundern. Sie
sind gerade in verschiedenen Räumen, als ein terroristischer Anschlag das Museum
erschüttert. Theo übersteht die Katastrophe unverletzt, erlebt jedoch Begegnungen, die
für sein Leben prägend sein sollen. Er sieht die rothaarige Pippa, die später zur
unerfüllten Liebe seines Lebens wird. Nicht minder bedeutsam ist aber auch der alte
Welty, der ihm im Sterben liegend mit einer letzten Bitte einen alten Ring in die Hand
drückt.
Und bevor Theo aus dem Chaos flüchtet, nimmt er das kleine heruntergefallene
Fabritius-Gemälde an sich, ohne recht zu wissen warum. Trotz Panik und Verwirrung gelingt
es ihm, unbemerkt raus und nach Hause zu kommen. Die Szenen, in denen er nun vergebens auf
das Auftauchen seiner unter den Trümmern erschlagene Mutter wartet, gehören zu den
ersten ganz großen, bewegenden Passagen des Romans.
Der Vereinnahmung als Waisenkind sein Hallodri von Vater hat sich vor Jahren
abgesetzt entgeht Theo schließlich, indem er bei seinem Schulfreund Andy Barbour
in dessen wohlsituierter Familie unterkommt. Trotz der unterkühlten Mutter Barbour und
der zickigen kleinen Kitsey geht es ihm gut, wenngleich ihn Alpträume plagen. Und Jahre
später wird der Ich-Erzähler sich die unüberwindbare posttraumatische
Belastungsstörung eingestehen, die ihn zum Tablettensüchtigen macht: Die
Plötzlichkeit der Explosion hatte mich nie mehr verlassen, ständig hielt ich Ausschau
nach einem Unglück, erwartete es jeden Moment aus dem Augenwinkel.
Ohne Wissen seiner Gastfamilie erfüllt er den Wunsch des alten Mannes und sucht dessen
Geschäftspartner James Hobie Hobart auf, der eine kleine Firma für
Antiquitäten und deren Aufarbeitung betreibt. Es wird der Beginn einer jahrelangen
Freundschaft, zunächst wird die allmähliche Beruhigung seines Lebens jedoch drastisch
unterbrochen, denn Theos halbseidener Vater Larry Decker taucht plötzlich samt der auch
nicht eben seriös wirkenden Freundin Xandra auf.
Womit der Roman eine heftige Wende nimmt, denn Vater Decker holt den Jungen ins
Spielerparadies Las Vegas, wo er ein großes Haus und seinen flotten Lebenswandel mit
Zocken verdient. Theo aber fühlt sich entwurzelt, findet allerdings im Halbwaisen Boris,
Sohn eines versoffenen Ukrainers, einen Freund, mit dem er sich bald herumtreibt, trinkt,
in Läden klaut sowie Marihuana und anderen Drogen frönt. Hier gibt es zuweilen geradezu
erlesene stille Passagen von großer Schönheit, wie Donna Tarrt ohnehin in ihrer reichen
Prosa bei aller Personenvielfalt auch nie den Blick für Details verliert.
Doch die fragile schräge Idylle zerbricht unversehens, als Vater Decker trunken einen
tödlichen Autounfall hat. Offenbar wollte er wegen Schulden beim Syndikat das Weite
suchen und es bleibt ungewiss, ob es wirklich ein Unfall war. Für Theo heißt das jedoch:
sofortiges Verschwinden, bevor er von irgendwelchen Familiendiensten aufgegriffen wird.
Auch Boris kann ihn nicht wenigsten einen Tag aufhalten, dabei hat seine eindringliche
Bitte mit dem von Theo stets als heimlichen Schatz gehüteten Distelfink zu
tun was aber erst viel später aufgeklärt wird.
Der Junge landet schließlich bei seinem väterlichen Freund Hobie in New York, wo er in
das Geschäft einsteigt und es später sogar vor der Pleite bewahren kann. Allerdings
durchlebt Theo bewegte Zeiten, denn er verkauft auch Fälschungen und wird eines Tages
sogar von einem Mann erpresst, der offenbar etwas über den Verbleib des Gemäldes
herausgefunden hat. Zugleich wird Pippa zu einer schmerzlichen Enttäuschung für ihn und
er lässt sich auf Heiratspläne mit Kitsey ein.
Bis Boris wieder in Theos Leben eintritt und sie versuchen wollen, das Bild an die
eigentlichen Eigentümern zurückzugeben. So wird der voluminöse Roman noch zum Krimi und
endet mit einem dramatischen Finale dort, wo er auch einsetzte, im fernen Amsterdam.
Selbst diese letzte von vielen großartigen Wendungen überzeugt, wie ohnehin nichts in
diesem literarischen Wunderwerk mit seiner ruhigen und doch fesselnden Erzählweise
einfach so da ist. Alles ist miteinander verbunden und jede Feinheit ist von Bedeutung.
Jegliches Pathos ist unterblieben und wenn die faszinierenden Charaktere ausnahmslos eines
vermitteln, dann das posttraumatische Gefühl einer Nation, die seit dem 11. September
2001 dieses Urgefühl relativer Sicherheit verloren hat. Fazit: Der Distelfink
dürfte wohl das Buch des Jahres sein.
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