ANTHONY MARRA: DIE NIEDRIGEN
HIMMEL
Tschetschenien 2004, das Dorf Eldar, ein Trupp sogenannter Föderaler, eine russische
Todesschwadron, hat Dokka abgeholt und sein Haus niedergebrannt. Tochter Hawah aber konnte
in den nahen verschneiten Wald flüchten. Aus dem hat sie nun Nachbar Ahmed gerettet und
er will die Achtjährige in Sicherheit bringen.
Mit dieser bereits beklemmenden Eröffnung setzt Anthony Marras Debütroman Die
niedrigen Himmel ein. Überwiegend spielt er im zweiten Tschetschenien-Krieg, der
die unfassbare Grausamkeit des ersten von 1994 noch bei weitem überbot und jedes
menschliche Zusammenleben in seinen Grundfesten erschütterte. Geschehnisse aus dieser
Vorzeit ragen jedoch untrennbar in die Gegenwart zehn Jahre später hinein. Jetzt aber ist
es dieser Ahmed, ein reichlich untalentierter Arzt, der Hawah zum Krankenhaus Nr. 6 in der
Stadt Woltschansk bringt, damit sie dort versteckt werde.
Er trifft in dem teilweise ausgebombten auf die Ärztin Sonja, die ihre Karriere als
hervorragende Chirurgin in Großbritannien aufgegeben hat, nachdem ihre Schwester Natascha
als verschwunden galt. Hier nun operiert sie im Dauerbetrieb Opfer der allgegenwärtigen
Landminen, an ihrer Seite als letzte vom vielköpfigen Personal nur noch Krankenschwester
Deshi. Sonja, ethnisch eine durch die Ansiedlung ihrer Eltern hierher gekommene Russin,
lässt sich schließlich auf einen Handel mit dem Tschetschenen Ahmed ein: Hawah darf
bleiben, wenn er als Mädchen für alles im Krankenhaus arbeitet.
Die Kleine zu retten wird zu einer wahren Herausforderung, während die Ärztin ansonsten
sehnlichst auf ein Lebenszeichen von Natascha wartet, die ja schon einmal verschwunden war
und dann zurückkehrte. Und allmählich erweitert sich dieser kriegszerfressene Kosmos um
immer mehr Akteure, Geschehnisse und Geschichten. So war Dokka der beste Freund Ahmeds und
er war schon zuvor einmal von den Schergen auf die sogenannte Deponie verschleppt worden.
Ein wahrer Höllenort von Folter, Demütigung und willkürlichem Töten, wo man Dokka
sämtliche Finger abschnitt.
Verraten wurde er offenbar von Ramsan, einem sogenannten Informanten. Dieses Hassobjekt
erweist sich jedoch als eine überaus tragische Figur und mit ihr geht es auch zurück ins
Jahr 1994 zum ersten Tschetschenien-Krieg. Damals landete er als junger Kerl auf der
Deponie und wehrte sich so tapfer vor dem brachial geforderten Verrat von Freunden und
Verwandten, dass man ihn kastrierte. Daran zerbrach er und hinzu kam die Verachtung durch
seinen ohnehin gefühlskalten Vaters, dem alten Kriegsveteranen Chassan, der einst für
die Rote Armee in endlose Kriege zog.
Er hat einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, die Geschichte Tschetscheniens
niederzuschreiben. Einschließlich solcher Erinnerungen wie an die jahrelange Deportation
der Tschetschenien auf Stalins Geheiß nach Kasachstan, aus der er erst 1956 mit nichts
als den Knochen seiner verstorbenen Eltern heimkehrte.
All diese Charaktere sind großartig gezeichnet und außerordentlich authentisch.Das gilt
ebenso für die vielen Nebenfiguren mit ihren Schicksalen, die ebenso zutiefst unter die
Haut gehen wie all die Einschübe von unglaublicher Menschenschinderei und dem Vegetieren
in einer zur unwirklichen Mondlandschaft zerschundenen Welt. Jede Ordnung scheint zunichte
und die quälende Trostlosigkeit lässt sich nur ertragen durch etlichze Momente grimmig
sarkastischen Humors. Allenfalls vereinzelte Reste von Menschlichkeit geben zuweilen einen
zaghaften Hauch von Hoffnung auf Freundschaft, Vertrauen oder gar Liebe.
Ein erschütternder Roman von großer Realitätsnähe ist das, zumal Anthony Marra selbst
in Russland war und die Sprache und Geschichte studierte. Er entwirft ein umfassendes Bild
über zehn Jahre und er tut dies mit umfänglichem brillantem Detail- und Bilderreichtum,
nichts jedoch von seiner anspruchsvollen Prosa wäre überflüssig und man möchte trotz
des komplexen wie auch bedrückenden Inhalts keine Zeile missen. In seiner amerikanischen
Heimat wird dieses Werk bereits als ein würdiger Nachfolger von Krieg und
Frieden gefeiert, nur diesmal in jüngster Vergangenheit spielend.
Völlig zu Recht und man kann nur staunen über die Reife dieses Romans, denn der Autor
war noch keine 30 Jahre alt bei dessen Veröffentlichung. Fazit: ein grandioses, wenn auch
schwer erträgliches Meisterwerk mit unvergesslichen Charakteren und Bildern. Ein Lob
gebührt im Übrigen der Übersetzung ins Deutsche, die Marras faszinierende Sprachgewalt
bewahrt hat.
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