DIETMAR NEUTATZ: TRÄUME UND
ALPTRÄUME
Dreimal wurde Russland im 20. Jahrundert neu erfunden, doch viele der Träume, die die
Modernisierer hatten, wurden später zu Alpträumen. Wir wollten das Beste, aber es
kam wie immer, dieses Zitat des Politikers Viktor Tschernomyrdin aus dem Jahr 1993
wurde zum geflügelten Wort und ist geradezu ein Synonym für die großen Umbrüche und
was aus ihnen wurde.
Einen brillanten Überblick über dieses dramatischste Jahrhundert der russischen
Geschichte legt dazu Dietmar Neutatz unter dem Titel Träume und Alpträume. Eine
Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert vor. Der Professor für Neuere und
Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Breisgau bedient
sich dabei einer glänzend herausgearbeiteten Dokumentationsklammer, indem er er die
Selbstdarstellungen der jeweiligen Staatsformen auf den Weltausstellungen ihrer Ära zu
Orientierungspunkten macht.
So zeigt er, wie sich das Zarenreich 1900 in Paris als wahre Großmacht wähnte, die zu
dieser Zeit zwar die größte territoriale Ausdehnung der Geschichte hatte, trotz
bemühter Modernisierung den westlichen Mächten aber weit hinterherhinkte. Geradezu
spannend lesen sich die gravierenden Umbrüche, die in den Revolutionen von 1905 und 1917
erst andeuteten und mit dem demütigenden Friedensschluss von Brest-Litowsk (1917/18) in
das Chaos von Oktoberrevolution und Bürgerkrieg mündete.
Was der Traum der Bolschewiken mit dem Kommunismus für die neu entstandene Sowjetunion
Großes und Gutes wollte und damit spätestens ab Stalins Machtübernahme für
Abermillionen Menschen an Unglück brachte, beschreibt der Experte ebenso detailliert wie
den gigantischen Rivalenkampf gegen den Westen im Kalten Krieg. Grotesk erweist sich das
Missverhältnis zwischen den propagierten Lebensumständen im Arbeiter- und Baenrparadies
und dem militärischen Großmachtauftreten nach außen.
Offenbar wird auch, in welchem Maße Laien und Dilettanten durch politische Ränkespiele
an die Macht kamen, jedoch völlig an ihren Aufgaben scheiterten. Zum wenig
aussichtsreichen Wettstreit mit dem Westen gesellte sich zunehmend ein immer gravierender
Realitätsverlust der Herrschenden in der Ära Breschnew. Die Zwangsläufigkeit des
Scheiterns der Sowjetunion und die Hochspannungszeiten unter Gorbatschow bis hin zum
Umbruch von 1989 bis 1993 wurden wohl selten so klarsichtig und aufs Wesentliche
konzentriert dargestellt.
Das Buch beschreibt hier nicht weniger als eine kaum glaubliche unblutige Revolution, auch
wenn die Marktwirtschaftler dann manches Chaos anrichteten und viele Russen Gorbatschow
nicht nur den Verlust des Weltmachtstatus sondern auch den der Arbeitsplatzgarantie und
der gesicherten Grundversorgung ankreiden. Ohnehin geht Neutatz immer wieder auch auf die
inneren Befindlichkeiten der Menschen ein, sei es auf die schwerwiegenden Auswirkungen der
rücksichtslosen Umweltsünden, sei es auf das breite Verständnis für Putins
gelenkte Demokratie nach den chaotischen 90er Jahren.
Neutatz begeistert bei all dem nicht nur durch die ebenso detaillierte wie kompakte
Darlegung der komplexen Materie, er schreibt zudem bei aller Wissenschaftlichkeit sehr
unterhaltsam. Wenn er sich gleichwohl bei allem Kenntnisreichtum einer Prognose für die
nähere Zukunft der wiedererstarkenden Weltmacht enthält, dient dies schlicht der
besonderen Seriosität dieses Buches, das man wohl mit Recht als ein Standardwerk zum
Thema bezeichnen darf.
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