ELIZABETH STROUT: „DAS LEBEN, NATÜRLICH“


Im Original heißt Elizabeth Strout neuer Roman „The Burgess Boys“ und diese sehr ungleichen Brüder Jim und Bob stehen im Mittelpunkt des Geschehens bei „Das Leben, natürlich“. Die beiden Juristen sind in New York tätig, doch die Pulitzer-Preisträgerin eröffnet einen viel weiter gesteckten Kosmos, in dem Heimat und Familie eine zentrale Rolle einnehmen.
Jim Burgess ist regelrecht geflohen aus dem Provinznest Shirley Falls im ländlichen US-Staat Maine und hat es als ehrgeiziger Harvard-Absolvent zum namhaften Strafverteidiger gebracht. Auch privat geht es ihm prächtig, denn er ist mit der wohlhabenden Helen verheiratet und wohnt mit drei studierenden Vorzeigekindern in einem großen Haus in Brooklyn. Sein jüngerer Bruder dagegen steht völlig in seinem Schatten, beruflich hat er es nur als Rechtspfleger am Berufungsgericht geschafft, seine kinderlos gebliebene Ehe hielt nicht lange und Jim sieht seit jeher auf ihn herab.
Bobs Zwillingsschwester Susan aber hat über die Jahre sogar eine tiefe Antipathie gegen ihn entwickelt, die von einer frühen Familienkatastrophe herrührt: als Vierjähriger verursachte Bob einen Autounfall, bei dem ihr gemeinsamer Vater ums Leben kam. Allerdings ist auch Susan eine Verliererin, denn schon ihre Mutter hatte ihr keine Liebe entgegengebracht und später wurde sie von ihrem Ehemann verlassen. Noch immer lebt sie im heruntergekommenen Elternhaus, das sie kaum heizt.
Viel Schlimmeres als diese Gesamtsituation der einsamen Frau aber kommt nun durch ihren Sohn Zach auf sie zu. Der mürrische Eigenbrötler, der am Verlust des Vaters leidet, begeht eine aberwitzige Dummheit, die als mutmaßliches Hassverbrechen landesweit für entsetztes Aufsehen sorgt. Aus einem Frust heraus wirft der 19-Jährige einen halb aufgetauten Schweinskopf in die voll besetzte Moschee der somalischen Flüchtlingsgemeinde. Natürlich sind die Moslems entsetzt und empört, aber auch bei den puritanischen Neuengländern stößt dieser Glaubensaffront auf schärfste Verurteilung und Zach droht eine Freiheitsstrafe.
In ihrer Verzweiflung wendet sich seine Mutter trotz aller Aversionen sogar an Bruder Bob, weil der so viel brillantere Jim gerade in einem Feudalurlaub weilt. Und einmal mehr setzt Elizabeth Strout auf die Säule der Familie: beide Brüder eilen widerwillig ins verabscheute Shirley Falls mit seinem Provinzmief, um zu helfen. Jims großartige Rede bei einer öffentlichen Solidaritätsversammlung schadet Zach fast mehr als die juristische Unterstützung hilft. Doch Abdikarim, der Älteste der Somalis, zeigt Milde in der Bewertung des Vergehens und auch offiziell wird festgestellt, dass der Teenager zwar psychisch daneben ist, aber kein Rassist.
Die scheinbar so klar umrissenen Rollen der Geschwister kommen gleichwohl ins Wanken und unerwartet schnell wandeln sich die Gewichte. Hier ist es vor allem der große Jim, der sich durch eine dümmliche Affäre mit einer Kanzleiangestellten um die Ehe, den Wohlstand und die Achtung seiner Kinder bringt. Trotz allem gönnt die Autorin ihren Protagonisten ein kleines Happyend, wie sie ohnehin in ihrem klugen Roman voller Lebensweisheit nicht die moralische Peitsche schwingt, sondern die Werte von Familie und Heimat beschwört.
Zum großen Lesevergnügen dieses fesselnden Romans tragen insbesondere auch die kraftvolle, lebensnahe Prosa und die Zeichnungen sämtlicher Charaktere mit viel Tiefe und Konturen bei.

# Elizabeth Strout: Das Leben, natürlich (aus dem Amerikanischen von Sabine Roth und Walter Ahlers); 395 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München;

€ 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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