COLM TOIBIN: „MARIAS TESTAMENT“


Das gewachsene Bild der Gottesmutter Maria scheint zumindest in der Sicht gläubiger Christen klar zu sein, doch wer war diese Frau in der nüchternen Realität als eine Mutter, die ihren Sohn verloren, wirklich? Dieser Fragestellung hat sich der irische Romancier Colm Toibin mit „Marias Testament“ angenommen.
Zunächst als Einpersonenstück in Irland und am Broadway aufgeführt, liegt es jetzt in Buchform als Novelle vor. In einem einzigen Monolog schildert die alt gewordene Maria, die aus Sicherheitsgründen seit langem im fernen Ephesus lebt, was einst geschah. Und es ist eine sehr persönliche Sicht der Geschehnisse. Daran können auch die beiden aufdringlichen ehemaligen Gefährten ihres Sohnes nichts dran ändern.
Die sehen sich gewzungen, für den großen Bericht, den sie über die kirchenstiftenden Ereignisse fertigen, Maria als Mitbetroffene und Zeugin zu befragen. Die einfach denkende und empfindende Frau verweigert sich allerdings der Vereinnahmung und will weder etwas wissen von irgendeiner Heiligkeit, noch will sie auch ansonsten erzählen, was und wie die Beiden es hören wollen.
Bis jetzt hat sie den Schmerz über den Verlust nicht verwunden, um so mehr findet sie das Verhalten dieser Männer unverschämt. Ihre Erinnerungen an damals gehen bis in die Kindheit und Jugend des Sohnes zurück, der sich erst als junge Erwachsener mit Leuten umgeben hat, die in ihren Augen Gesocks waren. So sehr sie ihn auch liebte, hat sie seine Wundertaten zwar durchaus als echt erachtet und den wiedererweckten Lazarus hat sie selbst gesehen. Wenngleich sie in Frage stellt, ob diese Wundertat ein Segen für ihn war.
Offenbar wird aber auch die Entfremdung, als der Sohn mit seiner rapide wachsenden Anhängerschaft immer abgehobener und anmaßender wird. Sein Gerede vom Sohn Gottes kann sie einfach nicht ernst nehmen, dagegen wird ihre Sorge um sein Wohlergehen immer größer, denn sie hört immer dringlichere Warnungen, dass die Obrigkeit gegen den Aufrührer vorgehen will.
Nach einer großartigen Passage von der Hochzeit von Kana, bei der sie selbst das Wassser-zu-Wein-Wunder miterlebt aber auch die Anwesenheit übler Schergen, folgt das Drama um Prozess und Kreuzigung. Hier gehört es zu den zutiefst menschlichen und nicht so recht ins Bild der Schreiber des Neuen Testaments passenden wirklichen Verhaltensweise Marias. Sie fürchtete durchaus zu Recht, dass auch sie wie all seine Anhänger in höchster Gefahr schwebte durch das Gelichter auf dem Hinrichtungsplatz.
Und sie, die die Gefolgschaft des Sohnes ohnehin als Spinner und Sektierer eingeschätzt hat, empfand nichts als Hilflosigkeit und Verzweiflung und rettete in der Stunde der höchsten Not nur noch ihr eigenes Leben durch Flucht. So hat sie geistlichen Trost schließlich bei der griechischen Göttin Artemis gesucht und die beiden Evangelisten hören bei ihrem letzten Besuch eine bittere Absage: „Wenn Ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war.“
Mutter Gottes? Diese Maria bleibt ganz Mensch, indem sie einfach nur als Mutter um den so grausame geendeten Sohn trauert. Für seine angeblichen „höheren Aufgaben“ zeigt sie kein Verständnis und – warum sollte sie auch? Die Bühnenfassung dieses tief bewegenden Monologs war bereits ein Riesenerfolg, denn Toibin hat diese Darstellung in grandiose Texte gegossen. Als Buch verlieren seine Worte aber auch kein bisschen von ihrer magischen Kraft. Fazit: eine Novelle, die herausfordert, nachdenklich macht und als literarisches Meisterwerk noch für viele Diskussionen sorgen wird.

# Colm Toibin: Marias Testament (aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini); 127 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; € 14,90


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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