JEANNETTE WALLS: „DIE ANDERE SEITE DES HIMMELS“


Mit ihrer eigenen Lebensgeschichte hatte Jeannette Walls 2005 unter dem Titel „Schloss aus Glas“ einen Welterfolg und die folgende Romanbiographie „Ein ungezähmtes Leben“ über ihre Großmutter war ebenfalls ein Bestseller. Da verwundert es nicht sehr, dass sie nun einen Roman geschrieben hat, in dem sich manche Motive wie das der Kinder, die sich wegen der speziellen erratischen Haltung der Eltern quasi selbst zurechtfinden müssen, wiederfinden.
In „Die andere Seite des Himmels“ sind es die zwölfjährige Jean, allgemein nur Bean genannt, und ihre drei Jahre ältere Schwester Liz, die es gewohnt sind, immer wieder kreuz und quer umzuziehen. Ihre alleinerziehende Mutter Charlotte Holladay treibt der Ehrgeiz um, endlich Karriere als Folklore-Sängerin und Songwriterin zu machen, und da das Ganze um 1970 spielt, gibt sie sich entsprechend hippiemäßig. Diesmal jedoch ist die Situation offenbar anders, denn die Künstlerin, die ihre Kinder trotz allem durchaus liebt, ist auf Wochen nach Los Angeles gereist, um ihre Karriere voran zu bringen.
Wie Bean als altkluge Ich-Erzählerin berichtet, sind sie und ihre hypersensible Schwester wie so viele Kinder von Eltern mit derartigem libertärem Lebensstil um so ordentlicher und auch besonders regelkonform beim Schulbesuch. Trotzdem wird es nach einigen Wochen kritisch, denn Nachbarn melden die Abwesenheit der Mutter und es droht der Besuch von den Behörden. Dem entweichen die Mädchen noch gerade rechtzeitig, indem sie sich in einen Greyhound-Bus setzen und für das restliche Essensgeld aus dem kalifornischen Wüstenstädtchen ins ferne Virginia kutschieren lassen.
Dort in dem Provinzkaff Byler lebt ein Bruder ihrer Mutter. Dieser Onkel Tinsley empfängt sie zwar mit vorgehaltener Flinte, erliegt aber schnell dem widerspenstigen Charme seiner Nichten. Er gibt ihnen im heruntergekommenen Familiensitz zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie ein richtiges Zuhause. Und sie lernen ihre ganze übrige Familie kennen, allen voran die mütterliche Tante Al sowie den nach außen hin stets grantigen Onkel Clarence. Dort erfahren sie auch, dass es ihre Mutter vermutlich gar nicht nötig hätte, als Hungerleider durch die Gegend zu ziehen, denn den Holladays gehörte einst die Baumwollweberei und vieles mehr im Ort.
Während ihre Mutter als einstige „Prinzessin“ in Byler das rückständige Städtchen mit seinen erzkonservativen Menschen hasst, finden die Mädchen diese enge aber behagliche Welt mit ihren strengen Regeln anheimelnd und sie leben sich schnell ein. Bean allerdings weit stärker als die etwas komplizierte Liz, die sich dann intesiv der Pflege von Emus widmet. Doch dieses Hineinwachsen in die Normalität ist nicht von Dauer. Da die Mädchen Geld für Schulkleider benötigen und es sich selbst verdienen wollen, gehen sie gegen den Willen von Onkel Tinsley heimlich im Haus Maddox jobben.
Der bullige Joe Maddox aber ist nicht nur der autoritäre Boss in der Weberei, der seine Leute schindet. Selbst bei der Polizei mag man ihn nicht wegen seiner ständigen Anzeigen und eigenen Fehlverhalten, vor allem jedoch ist er gefürchtet für seine ständigen Übergriffe gegenüber Frauen. Als er nun auch Liz unsittlich angeht, kippt die gesamte Situation. Der Teenager zieht sich noch mehr in sich selbst zurück und steigert sich in Ängste und seltsames Verhalten. Bis die jüngere aber in sich gefestigtere Bean es in ihrem Gerechtigkeitsstreben schafft, Liz zur Anzeige zu bewegen.
Es kommt zwar zum Prozess, die Bürger Bylers sind jedoch in ihrer Haltung gespalten, schon weil viele von Maddox abhängig sind. Nahezu zwangsläufig verheddern sich die Mädchen in den Fallstricken des oft schwer nachzuvollziehenden amerikanischen Strafprozessrechts und – Maddox triumphiert mit einem klaren Freispruch. Doch dem ebenso spannenden wie aufregenden Gerichtsverfahren folgt schließlich ein Finale, das es in sich hat. Und noch einmal zeigt sich, wie bedeutend Familienzusammenhalt und Blutsbande sein können – etwas, von dem diese Autorin spürbar besonders viel versteht.
Jennifer Walls hat diesen bis zuletzt fesselnden Roman eines Erwachsenwerdens unter erschwerten Bedingungen in ruhiger, kraftvoller Prosa geschrieben und dabei die Erzählweise aus Sicht einer Zwölfjährigen gekonnt und überzeugend umgesetzt. Fazit: ein wunderbares Stück Literatur auch für anspruchsvolle Leser.

# Jeannette Walls: Die andere Seite des Himmels (aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann); 366 Seiten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) 

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