PRATCHETT/BAXTER: „DIE LANGE ERDE“


Als der Wissenschaftler Willis Lindsay spurlos verschwindet und sein Haus abbrennt, findet man in der Ruine einen angekokelten Plastikkasten mit angelöteten Drähten, einem Schalter und einer Kartoffel. Als die Polizistin Monica Jansson im Jahr 2015 auf diese eher primitive Vorrichtung stößt, ahnt sie nicht, dass der Bauplan dafür exakt an diesem Tag im Internet erscheint und die Geschichte der Menschheit auf immer verändert.
Noch seltsamer aber ist der Einstieg in den Roman, der sich dieser völlig veränderten Zukunft widmet. Was nicht verwundert, wenn man erfährt, wer „Die lange Erde“ verfasst hat: in erstmaliger Zusammenarbeit Terry Pratchett, der Kultautor der Scheibenwelten, sowie Stephen Baxter, vor allem für wissenschaftliche und ScienceFiction-Bücher bekannt. Grundlage war eine Kurzgeschichte Pratchetts, die dieser vor dem Welterfolg der Scheibenwelt-Serie schrieb und dann liegen ließ.
Doch das Warten hat sich gelohnt, denn dieser Roman, der gänzlich anders ist und Auftakt einer neuen großen Serie sein soll, fasziniert mit einer Mischung aus hinreißender Fantasie und allerhand gedanklicher Tiefe. Die Grundidee sind Parallelwelten, denn dorthin kann man mit dem so simpel anzufertigenden „Wechsler“ gelangen. Gewissermaßen in westlicher und östlicher Richtung weg von Datum, wie unsere bekannte Erde hier heißt, kann man zu immer neuen Erden wechseln. Allerdings nur mit einem selbst gefertigten Gerät und nur jeweils von einer zur nächsten und – sehr wichtig – man kann kein Eisen wechseln lassen.
Nachdem anfangs reihenweise Kinder das einfache Gerät nachbauten und verschwanden, tut dies als Hauptperson auch der 13-jährige Waisenjunge Joshua Valienté. Im Gegensatz zu den meisten Wechslern bleibt bei ihm die große Übelkeit beim Übergang nicht nur aus, er kann als „natürlicher Wechsler“ sogar ohne Gerät zu anderen Erden gehen. Der große Clou aber sind diese anderen Welten, die der bekannten alle ähneln, wenngleich mit immer größeren Abweichungen, je weiter man zu ferneren Exemplaren gelangt.
Entscheidender an den offenbar unendlich vielen Erden ist – sie sind menschenleer! Was einen regelrechten Run auf neue verlockende Erden mit ungeahnten Möglichkeiten auslöst. Allerdings so wie neben Joshua auch einige andere Menschen ohne Wechsler wechseln können, sind andere auch gänzlich unfähig dazu. Joshua aber wird nun zum Weggefährten für Mister Lobsang und dessen abenteuerliche Reise zur Erforschung des Lange-Erden-Geheimnisses.
Lobsang ist eine skurrile Erfindung, denn eigentlich ist er ein angeblich empfindungsfähiger Computer und zugleich ein wiedergeborener tibetischer Mechaniker. Auf ihrer Reise zum Ende der Langen Erden – falls es das überhaupt gibt – treffen sie auf Humanoide, die ebenfalls natürliche Wechsler sind, jedoch offenbar auf der Flucht vor etwas. Schließlich treffen Joshua und Lobsang ganz weit „draußen“ völlig unerwartet auf Sally, die Tochter des alles auslösenden Forschers.
Der Leser muss bei diesem Roman jedoch zwei wichtige Aspekte wissen: diese Geschichte ist weitaus ernster als die der Scheibenwelten und was sich bisher nach durchgehend Erzähltem anhört, hat zwar den roten Faden der Langen Erden, besteht jedoch weitgehend aus Einzel-Episoden mit teils recht verschiedenem Personal. Wenn das Buch mit seinen zahllos aufgeworfenen neuen Welten und Ansätzen neuer Gesellschaftsformen dann mit einem Cliffhanger endet, wird endgültig bewusst: dies ist der Auftakt zu einer Serie, die aller Voraussicht nach umgehend zum Kult werden wird.
Fazit: zwei große britische Autoren haben hier auf kongeniale Weise anspruchsvoll Neues geschaffen, das nicht zuletzt auch dem ausufernden Trend der Dystopien ein wunderbares positives Lesevergnügen entgegensetzt. Anmerkung 1: man muss ganz und gar kein Fan von ScienceFiction sein, um sich für „Die lange Erde“ zu begeistern. Anmerkung 2: der Folgeband wird in naher Zukunft auf Deutsch vorliegen und Band 3 ist in Arbeit.

# Terry Pratchett/Stephen Baxter: Die lange Erde (aus dem Englischen von Gerald Jung), 399 Seiten, Klappenbroschur; Manhattan Verlag, München;

€ 17,99


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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