JOHN le CARRE: "EMPFINDLICHE WAHRHEIT"

Als John le Carré vor genau 50 Jahren seinen Welterfolg "Der Spion, der aus der Kälte kam" veröffentlichte, war er mit diesem Stoff hochaktuell. Und kaum glaublich aber wahr: der mittlerweile 82-jährige Brite schafft genau das auch mit seinem jüngsten, mittlerweile 23. Roman "Empfindliche Wahrheit", einem veritablen Polit-Thriller wie einst sein Debüt.

Als hätte ihm Edward Snowdon vorher verraten, was er bald Entlarvendes über die NSA in die Welt setzen würde, steht bei le Carré ein Whistleblower von Anfang 30 im Mittelpunkt. Allerdings ist dieser Toby Bell kein IT-Profi sondern ein Diplomat "mit Zukunft", die Wahrheiten, die er aufdeckt und öffentlich zu machen versucht, sind jedoch ähnlich erschreckend.

In typischer Manier beginnt der Altmeister mit einer bevorstehenden Kommando-Aktion und mittendrin Kit Probyn, hier mit dem Tarnnamen Paul Anderson. Sein Chef, der neue rüpelhafte Staatsminister Fergus Quinn, hat den nachrangigen unbedarften Mitarbeiter als "Unterflieger" für einen Spezialauftrag ausgesucht - mit wenig Einblick und Durchblick, quasi als ministerielles Feigenblatt vor Ort. Dort auf dem Felsen von Gibraltar, noch immer britische Kolonie, soll eine Spezialeinheit bei dieser Operation "Wildlife" in Zusammenarbeit mit einer etwas mysteriösen Gruppe amerikanischer Söldner einen hohen Dschihadisten der al-Quaida kidnappen.

Probyn/Anderson als ausgesuchter Idiot vom Dienst erfährt nur, dass Alles geklappt haben soll. Sein Dank ist der "Sir"-Titel und eine baldige Verabschiedung in den ländlichen Ruhestand. Derweil wird Jung-Diplomat Bell nach etlichen Stationen nun zum Assistenten Quinns. Dessen Machenschaftren machen ihn alsbald misstrauisch und er bemerkt eine seltsame Allianz des Ministers mit US-Kreisen, hinter denen unter anderem "Miss Maisie" steckt, millionenschwere Tea Party-Aktivistin der besonders fundamentalistischen Sorte. Ihr Unternehmen nennt sich "Ethical Outcomes" und ist nichts anderes als ein privater Militärdienstleister.

Bells Mentor Giles Oakley, längst zu einer grauen Eminenz des Foreign Office geworden, reagiert auf seinnen Hilferuf allerdings überraschend abweisend. Dabei kommen die heiklen Wahrheiten nun gleich parallel zum Vorschein, wobei Bells Vorgehen etwas skurril Altmodisches und zugleich Glaubhaftes an sich hat, denn als er konspirative Gespräche seines Chefs mitschneidet, tut er dies ausgerechnet mit einem alten Tonbandgerät. Da ist die andere Wahrheit weitaus bitterer und sie vergällt Sir Probyns gemütlichen Ruhestand.

Bei ihm taucht Jeb auf, einer der britischen Soldaten von der Operation auf Gibraltar - schuldlos als Verantwortlicher für deren Scheitern davongejagt. Tatsächlich nämlich wurde die vermeintlich hochrangige Zielperson nie gesichtet, stattdessen aber als Kollateralschaden eine junge Mutter und ihre Tochter - afrikanische Bootsflüchtlinge, die sich versteckt hatten - erschossen. Wenn nun Probyn wie auch Toby Bell die Wahrheiten ans Licht bringen wollen, ahnt man, wie lebensgefährlich es werden kann, seinem Gewissen zu folgen.

Doch le Carré belässt es in seinem exzellent verzwickten Roman nicht beim Aufzeigen haarsträubender und erschreckend authentischer Drahtziehereien zwischen staatlichen Stellen und privaten Militäördienstleistern in den Händen von rechtslastigen Sicherheitsfanatikern. Mit viel Galle geißelt er auch "New Labour", das ja die heikle Privatisierung staatlicher Aufgaben erst ermöglichte. Da erhält dann Toby Bell von seinen überzeugten Labour wählenden Eltern die bittere Mitteilung, Tony Blair, das einstige Idol "hat uns verraten."

Wie viel Hoffnung der Leser hegen darf, ob Toby Bells Daten vom USB-Stick den "Guardian und die "New York Times" erreichen - wie die Aufdeckungen des echten Whistleblowers Snowdon! - lässt le Carré ofen. So aktuell und tiefgründig der Meister mit dem großen Durchblick das Alles verfasst hat, Optimismus schimmert da kaum durch. Fazit: ein virtuoses Stück Spannungsliteratur von brisanter Aktualität. Im Übrigen hatte le Carré im Vorfeld Bedenken wegen der ihm nicht so sehr geläufigen HighTech, ohne die es in der Spionage-Branche offenbar nicht mehr zu gehen scheint - es ist ihm meisterhaft gelungen, das komplexe Geschehen auf die wahren Handelnden zu konzentrieren, die handelnden Menschen.

 

 

# John le Carré: Empfindliche Wahrheit (aus dem Englischen von Sabine Roth); 394 Seiten; Ullstein Verlag, Berlin;

€ 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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