VIKTOR JEROFEJEW: "DIE AKIMUDEN"

Russland wird einfach seine Vergangenheit nicht los. Zumindest nicht, wenn man Viktor Jerofejew glaubt, der mit seiner Vorliebe fürs Extreme, für Provokantes und Absurdes seinem Land einen aberwitzigen Zerrspiegel mit seinem jüngsten Roman "Die Akimuden" vorhält.

Der Diplomatensohn, dessen Vater ein enger Vertrauter Stalins war, präsentiert hier ein Land, das an einer krankhaften Form der Demokratie beinahe untergeht. Besser gesagt, es kommt ganz plötzlich zu einer Invasion, fast ohne irgendwelche kriegerischen Handlungen, dafür aber aggressiv und überwältigend. Die Eroberer? Die Toten der Vergangenheit, also die eigenen Vorfahren, die naturgemäß die Zahl der aktuell Lebenden bei weitem übersteigt.

Nach demokratischen Maßstäben ist es also völlig in Ordnung, dass sie im Moskau unserer Tage umgehend die Macht übernehmen. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, erfährt von den neuen Verhältnissen, als er in die Botschaft des Herkunftslandes der neuen Herrscher eingeladen wird, der auf keiner Landkarte zu findenden Inselgruppe der Akimuden. Der Botschafter, schlicht der Akimud genannt, entpuppt sich als eine Art Heiland mit allerdings wenig heiligem Benehmen.

Es wird, vorsichtig ausgedrückt, ungemütlich in Moskau und anderen von den Auferstandenen übernommenen Städten. Der Chef der bisherigen Regierung - bis zur Kenntlichkeit einem gewissen Putin nachempfunden - dient sich einerseits der neuen Macht an, andererseits gibt es natürlich Versuche, sich der neuen Machthaber und ihrer massenhaft alles verdrängenden Totenscharen zu entledigen. Katja, die dauergeile Freundin des Ich-Erzählers, versucht es als Undercover-Agentin "Fink" immer wieder erfolglos.

Das physische Bekämpfen von Wiederauferstandenen stellt sich ohnehin als schwierig heraus. Auch der Kreml-Chef scheitert wiederholt, wobei es zur wohl makabersten von unzähligen schrägen Szenen kommt, als er und der Patriarch den Akimud auf dem Roten Platz ans Kreuz nageln und dann verbrennen lassen. Oder ist der Akimud gar nicht der Teufel sondern der Erlöser, der Russland vom Chaos erretten will?!

Solche typisch russischen Grübeleien über Gott und die Welt ziehen sich ebenso durch das Panoptikum der episodenhaft und immer wieder ihre Stimmlage wechselnden Ereignisse. Zahlreiche Literaten großer Zeiten spielen eine Rolle, während es andererseits zu rüden Kapitelüberschriften kommt wie "Zeit zu scheißen, aber wir haben nichts gegessen." Die dazugehörige Szene ist von ähnlich kauzigem Humor wie zum Beispiel die Wunscherfüllung, die der Akimud dem Ich-Erzähler ermöglicht hat: er kann die Nacht mit der echten Kleopatra verbringen. Das Vergnügen mit der Dame ist jedoch eher enttäuschend.

Sind in der russischen Realität die Rechte des Einzelnen schon nicht gerade gerecht verteilt, so führt der ebenso genial verdrehte wie auch tiefgründige Endzeitroman den Kinderglauben von der Gleichheit aller Menschen vor Gott ad absurdum, denn als der ferne gottgleiche Herrscher der Akimuden die Toten zurück in ihr Reich befiehlt, heißt es für die Normalen ab auf ihren angestammten Friedhof, die Privilegierten aber dürfen auf die paradiesischen Akimuden.

Und wo andere Bücher durch brillante erste Sätze glänzen, ist es hier der Schlusssatz: "In Russland wird ständig auf irgendjemanden geschossen." Fazit: ein verwirrendes, komplexes, virtuoses Stück Literatur und damit ein Lesevergnügen nur für Leser, die extreme Herausforderungen zu schätzen wissen.

 

# Viktor Jerofejew: Die Akimuden (aus dem Russischen von Beate Rauch); 461 Seiten; Carl Hanser Verlag, Berlin;

€ 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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