MARISHA PESSL: "DIE AMERIKANISCHE NACHT"

Stanislas Cordova ist ein düsteres Genie und seine Filme sind so abgrundtief böse aber auch bewusstseinserweiternd, dass sie die Akteure wie die Zuschauer auf immer verändern. Ein Bild und ein Interview von ihm hat es zuletzt 1977 im "Rolling Stone" gegeben, jetzt aber gerät der Kultregisseur zum Mittelpunkt einer großen Geschichte - obwohl er quasi unsichtbar bleibt.

So rätselhaft sich das bereits anhört, so virtuos hat US-Autorin Marisha Pessl um diesen Magier ihren zweiten Roman gebaut. "Die amerikanische Nacht" lautet der Titel und darunter versteht man beim Film nächtliche Szenen, die am Tage gedreht werden. Also alles nur Täuschung? Nicht für den Journalisten Scott McGrath, der hier als Ich-Erzähler einen Wahnwitz schildert, in dem Realität und Illusion immer wieder durcheinander geraten.

Schon der Einstieg ist ein Geniestreich der jungen Autorin, denn da stellen Faksimiles von Zeitungs- und Magazinausschnitten wichtige Protagonisten vor, deuten auch die noch öffentlichen Glanzzeiten des Oscar-prämierten Cordova an. Und dann erfährt McGrath, dass man Ashley, die 24-jährige Tochter des Regisseurs, tot in einem Aufzugschacht eines aufgegebenen Warenlagers gefunden hat. Wahrscheinlich hat die ehemalige Star-Pianistin, die schon mit 12 ein Konzert in der Carnegie-Hall gab, Selbstmord begangen. Wahrscheinlich. Allerdings nach der Flucht aus einer psychiatrischen Klinik, wie McGrath später herausfindet.

Die Nachricht an sich elektrisiert ihn sofort, denn er hat noch eine Rechnung offen mit Cordova. Vor fünf Jahren hatte er seinen Spitzen-Job und seine Ehe ruiniert, nachdem er einem anonymen Denunzianten auf den Leim gegangen war. Angeblich hatte der nächtens als Chauffeuer den geheimnisvollen Filmemacher zu Spielplätzen fahren müssen und die seltsamen Mitteilungen gipfelten in dem ominösen Satz: "Er macht irgendetwas mit Kindern."

Eben diese ungeklärte Informationen hatten den so cleveren Genre-Reporter am nächsten Tag in einer Fernseh-Talkshow einen verhängnisvollen Satz darüber ausplaudern lassen. Natürlich hatte Cordova ihn mit einer Millionenklage fertig gemacht. Aber sollte nun dieser rätselhafte Tod der Tochter die Chance sein, um sich zu rehabilitieren?! Umgehend findet McGrath zwei Mitstreiter für das, was nun zu einer wahren Achterbahnfahrt wird, die ihn dem düsteren Magier näher bringen soll.

Die Möchtergernschauspielerin Nora Halliday war vermutlich die Letzte, die Ashley an ihrem Todestag lebend gesehen hat, und Hopper ist ein Junkie, der die Tote früher persönlich kannte. Der Weg dieser Drei, um die Wahrheit herauszufinden, entwickelt sich so düster und verwirrend, als habe Cordova das Drehbuch dazu geschrieben. Sie stoßen auf Mysteriöses, auf angeblich Flüche und immer wieder auf Spuren wie aus den Kultfilmen des zum Phantom gewordenen Regisseurs, von denen McGrath sagt, sie wühlten die dunkelsten verborgenen Seiten des Betrachters auf.

Das Alles entfaltet in seiner düsteren Wucht und dichten Atmosphäre eine ungeheure Sogwirkung und wenn man den gewaltigen mitreißenden Roman als ganz großes Kino bezeichnet, trifft das selten so exakt zu wie hier. Das Phänomen Cordova, das wie eine Wiedergeburt von Orson Welles, Roman Polanski und Stanley Kubrick erscheint, dazu dieser fatalistische Sarkasmus, mit dem McGrath erzählt - das fesselt vor allem auch mit diesem rauen Ton der Krimi noir von Chandler oder Hammett.

Die Mittdreißigerin Marisha Pessl glänzt zudem mit immer wieder eingestreuten brillanten Sätzen, manch starken Metaphern und die Dramaturgie ist schlichtweg mitreißend. Obendrein gelingt es ihr so souverän, als maskuliner Ich-Erzähler zu schreiben, dass die Glaubwürdigkeit nie in Gefahr gerät. Fazit: "Die amerikanische Nacht" ist ein literarischer Film noir der Sonderklasse und selbstverständlich darf man ganz konkret mit einer Verfilmung rechnen.

 

# Marisha Pessl: Die amerikanische Nacht (aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler); 792 Seiten, div. Abb.; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 22,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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