JOEL DICKER: "DIE WAHRHEIT ÜBER DEN FALL HARRY QUEBERT"

Einen großen amerikanischen Roman wollte der junge Genfer Autor Joel Dicker schreiben und - das ist ihm mit sensationellem Erfolg gelungen. "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" wurde im französischen Original ein Riesenerfolg, in Frankreich für den Prix Goncourt nominiert und jetzt weltweit veröffentlicht.

Ich-Erzähler ist dabei Marcus Goldman, ebenso jung wie Joel Dicker, allerdings US-Amerikaner. Er ist mit seinem Debütroman über Nacht zum Star der Literaturszene geworden, erleidet jedoch das typische Schicksal: der Ruhm verblasst schnell, der Verlag drängt auf den vertraglich zugesagten nächsten Roman und Goldman durchleidet eine massive Schreibblockade.

In seiner Not wendet er sich an seinen früheren Literaturprofessor, Mentor und väterlichen Freund Harry Quebert. Der lebt als hoch angesehener Einsiedler in einem großen Haus am Rande der Kleinstadt Aurora, New Hampshire, nah an der Küste. Er gilt nach seinem weltweit gerühmten Buch "Der Ursprung des Übels" seit den 70er Jahren als einer der großen zeitgenössischen Autoren Amerikas.

Durch eine unbedachte Schnüffelei kommt Goldman hinter das Geheimnis dieses Romans - mit der darin geschilderten umjubelten Romanze hat Quebert einer tatsächlich erlebten verbotenen Liebe ein Denkmal gesetzt, der zu der 15-jährigen Nola, die aber seit Sommer 1975 als vermisst gilt. Doch ausgerechnet jetzt wird in Queberts Garten ihre Leiche entdeckt und noch erschwerend daneben das Originalmanuskript des Erfolgsromans mit einer mysteriösen Widmung.

Natürlich wird Quebert sofort verhaftet und seine Bücher werden eilends aus allen Bibliotheken verbannt. Der weltberühmte Schriftsteller ein Pädophiler und Kindermörder?! Marcus Goldman ist offenbar der Einzige, der trotz aller offensichtlichen Beweise an Queberts Unschuld glaubt. Und er erkennt das unverhoffte Geschenk, das ihm diese Sensationsgeschichte als Autor quasi vor die Füße wirft. Je mehr er jedoch recherchiert, desto verwirrender erscheint allein schon die Person dieser Nola zu sein, in die der damals 34-jährige Quebert sich blindlings verliebte.

Doch war sie wirklich seine Lolita - die im Übrigen offenbar nicht nur ihn becircte - oder war es echte, wenngleich verbotene Liebe? Das Geschehen, das längst eine unentrinnbare Sogwirkung entwickelt hat, treibt nun rasant dahin, das aber in atemberaubender Dramaturgie mit wechselnden Zeitebenen und Erzählstilen. Immer neue Fäden werden geknüpft, falsche Fährten verfolgt und das Alles stets so raffiniert, dass der Leser dennoch nie den Überblick verliert, obwohl sich immer wieder Personen und Sachverhalte anders entpuppen, als zunächst angenommen.

Da gibt es ein düsteres Geheimnis in Nolas Vergangenheit, ein reicher alter Mann spielt ebenso eine undurchsichtige Rolle wie sein seltsamer früherer Chauffeur. Zugleich haben Polizeikräfte Dreck am Stecken und gleich etliche weitere Bürger in Aurora hätten triftige Motive für das Verbrechen. Kaum ist ein Verdächtiger überführt, sieht Entscheidendes schon wieder ganz anders aus und wenn der Leser als mitfiebernder Ermittler endlich meint, die Wahrheit zu durchschauen, wird er erneut ebenso überraschend wie schlüssig wieder eines Anderen belehrt.

Joel Dicker hat dafür ein faszinierendes Personentableau entworfen und erinnert selbst in den Gegenwartsbezügen - unter anderen das Jahr 2008 und die erste Obama-Wahl - an große Vorbilder wie Philip Roth und John Irving. Auch seine Prosa weist viel Ironie, eine Prise Zynismus und mancherlei bissig eingewobene Gesellschaftskritik auf und wenn er zum Beispiel beschreibt, wie sich Goldman einst den Ehrennamen "Der Fabelhafte" durch Hochstapelei ergatterte, wäre allein das schon eine wunderbare Vorlage für eine Filmkomödie.

Wer sich dann zwischendurch gewundert hat über eineige vergleichsweise unbeholfen wirkende Liebesbeschwörungen inmitten dieser ansonsten absolut souveränen Prosa, dem sei versichert, dass auch das Sinn macht. Man lasse sich einfach ein auf dieses anspruchsvolle und zugleich hinreißend fabulierende Stück Literatur. Und wenn jemand in diesem Jahr nur ein Buch lesen kann oder will, so sei ihm dieser Roman empfohlen, frei nach dem letzten Ratschlag Harry Queberts für seinen Schüler: "Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat."

 

# Joel Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert (aus dem Französischen von Carina von Enzenberg); 731 Seiten; Piper Verlag, München; € 22,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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