SERGEJ LEBEDEW: "DER HIMMEL AUF IHREN SCHULTERN"

Ein Spätgeborener ist Sergej Lebedew, Jahrgang 1981, was die unheilvollen Zeiten der Gulags bis in die späteren Epochen der Sowjetunion angeht. Doch gerade er reißt mit seinem fulminanten Debütroman "Der Himmel auf ihren Schultern" einen nahezu undruchdringlichen Schleier von den totgeschwiegenen Grauen willkürlicher Knechtungen und Tötungen in den Straflagern.

Sein namenloser Ich-Erzähler beginnt mit langsamen, wie eine kleine naive Sprachodyssee wirkenden Erinnerungen an die Kindertage in einer ehemaligen Feriensiedlung. Hier wird der Grundstücksnachbar zu einer dominierenden Figur seines Lebens, dabei ist er nur ein blinder alter Gärtner und nicht einmal wirklich mit ihm verwandt. Weshalb er ihn auch durchgehend nur den "zweiten Großvater" nennt.

Der aber bereits eine eigenartig beherrschende Rolle für den Ich-Erzähler spielt, bevor der überhaupt geboren ist. Wegen Schwangerschaftskomplikationen will seine Mutter abtreiben, doch der Alte kann sich mit seinem entschiedenen Einspruch dagegen durchsetzen. Aber auch danach bleibt er ein enger Begleiter durch die Kindheit mit vielen Ritualen und einer schleichenden Machtergreifung: "Der zweite Großvater zähmte mich mit aller Vorsicht."

Wer er jedoch ist und woher er kommt, weiß niemand, denn er lebte wie ein Mensch ohne Vergangenheit in nahezu perfekter Unscheinbarkeit. Und immer mehr entfaltet der zunächst so vermeintlich harmlose Erzählfluss mit all seinen starken, oft poetischen Bildern eine unentrinnbare Sogwirkung. Bis die zweite Lebensrettung des Ich-Erzählers durch den Alten allmählich das Heraufziehen neuer Dimensionen erahnen lässt.

Der Junge ist zehn, als er von einem Hund schwer verletzt wird. Der zweite Großvater erschlägt nicht nur das Tier mit dem Blindenstock, er spendet dem Kind im Krankenhaus anstelle der abwesenden Eltern Blut zum Überleben. Durch widrige Umstände stirbt der Alte jedoch selbst durch diese Hilfe. Für den Ich-Erzähler aber heißt das von jetzt an - er hat den zweiten Großvater auch in seinem Blut.

Als Erwachsener entdeckt er dann in der Datscha des Alten, die dieser ihm in seiner seltsamen intensiven Zuneigung vererbt hat, alte Briefe mit einem Absender aus Sibirien, dort wo einst berüchtigte Straflager waren. Geradezu obsessiv in seiner Suche nach der Wahrheit findet er den Absender und muss Entsetzliches erfahren: der zweite Großvater war einst einer dieser gnadenlosen Lagerkommandanten, für die ein Menschenleben nichts galt.

Und der Ich-Erzähler erfährt weit mehr als dieses Geheimnis seines unfreiwilligen Blutsverwandten, denn der Briefeschreiber gehörte damals als Leiter des Erschießungskommandos zu dessen wichtigsten Schergen. Immer tiefer taucht der junge Mann nun ein in ein Grauen, das allgemein zwanghaft vergessen wird und doch tief im Bewusstsein schlummert. Wie über Leben entschieden wurde und die stimmigen Gefangenenzahlen wichtiger waren als die Frage nach einer Schuld.

Der Gipfel dessen, was der Ich-Erzähler schließlich erkennen muss, ist die moralische Entmenschlichung der Handlanger des Todes: "Ihm grauste nicht vor dem, was er getan hatte. Er war bestürzt, als sich herausstellte, dass er, der Leiter des Erschießungskommandos, in der heutigen Welt ein Niemand war." Was da so aufwühlend und beklemmend zutage kommt, ist ein unvergleichlicher Klagegesang gegen das Verschweigen und Vergessen, zu dem es ein dunkles Geheimnis seitens des Autors gibt - er hatte selbst einen sogenannten Nenn-Opa, der zu Stalins grausigsten Säuberungszeiten als hoher Offizier im Geheimdienst wirkte.

Fazit: ein ungeheuer wichtiges Werk, das lange nachhallt mit Inhalten, die durch viel Sprachmagie und grandiose Metaphern trotz aller Schwere einen ganz großen Lesegenuss bescheren. Dies verdankt der Roman in seiner deutschsprachigen Fassung vor allem auch der meisterhaften Übersetzung durch Franziska Zwerg.

 

# Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern (aus dem Russischen von Franziska Zwerg); 332 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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