DAVID WAGNER: "LEBEN"

"Wenn du nicht stirbst, dann sterbe ich." Mit diesem Gedanken lebt der Mitt-Dreißiger, seit er auf der Warteliste für eine Lebertransplantation steht. Seine Zeit läuft gnadenlos aus, denn seine eigene Leer ist aufgrund eines vererbten Auto-Immunschadens chronisch entzündet und bereits erheblich zerfressen.

"Leben" lautet der Titel dessen, was David Wagner daraus in eine außergewöhnliche Form gebracht hat. Aber - was er hier in vielen meist kurzen Abschnitten erzählt, ist seine eigene Geschichte, allenfalls fiktional abgewandelt. Er selbst wurde mit dem Defekt geboren, der ihm bereits als Kind eine von der Zirrhose befallene Leber bescherte, als sei er ein jahrzehntelanger Quartalssäufer. Lange haben schwere Medikament ihm ein halbwegs normales Leben ermöglicht, wenngleich mit allerlei starken Nebenwirkungen bis hin zur Osteoporose.

Als namenloser Ich-Erzähler beginnt er den Bericht mit dem ersten von zwei lebensbedrohenden Blutstürzen, als durch die Leberschwäche Blutstaus ausgelöst werden, die Krampfadern in der Speiseröhre verursachen. Dennoch lehnt er beim ersten Anruf ab, als eine Spenderleber bereitsteht. Aber es ist schließlich nicht nur der schiere Überlebenswille, der ihn beim zweiten Anruf geradezu schlafwandlerisch ins Krankenhaus eilen lässt, denn er hat ja zwei Kindern. Die werden zwar nur dezent und namenlos erwähnt, um so bedeutsamer ist ihre unterschwellige Bedeutung.

Nun folgt der endgültige und langwierige Einstieg in diesen seltsamen Kosmos des Zweibettzimmers, der endlosen Krankenhausflure und der unterkühlten OP-Säle. Hier ist alles nur Gegenwart und selbst die ist so ungewiss, wie die Geräusche und Geschichten der wechselnden Bettnachbarn es sind. "Ich warte auf ein Leben, ich warte auf den Tod" - eines Anderen, damit er leben kann. Das bleibt der vage rote Faden selbst in den Fieberfantasien und den trägen Halbwachphasen.

Dann die matte Verzweiflung, als der Transplantation Komplikationen folgen, aber auch die Euphorie nach dem Überleben hält nicht lange vor. In der Reha erlebt er die allmähliche Annahme des neuen Lebens wie in einem Reset-Modus, der quasi "alles auf Null" stellt. Zugleich kommt die Grundfrage aller Organempfänger auf - die Aufnahme des "Fremdkörpers" im eigenen auch psychisch. "Ich bin jetzt nie mehr allein, nie mehr. Ich habe dich ja immer bei mir." Und seine Gedanken wandern immer wieder zu dem Spender und er spricht mit ihm.

Oder war es zum Beispiel eine junge schöne Frau mit einem Vespa-Unfall?! Deshalb nennt er sie auch zuweilen "Liebste", um gleich wieder in Betracht zu ziehen, es könnte auch ein hässlicher alter Kerl gewesen sein. Und endlich auch die Erkenntnis, dass er vielleicht gar nicht allein Teilhaber einer eventuell Holden ist. Ihre Lungen, Nieren, das Herz - wo mögen die inzwischen ihren Dienst aufgenommen haben?!

Nicht nur für den Ich-Erzähler ist da vieles beklemmend und verstörend und ein solcher Roman jenseits der Fiktion war wohl wirklich nur jemandem aus eigenem Erleben möglich. David Wagner macht dank der perfekten Mischung aus Ironie, Sarkasmus und Fatalismus daraus ein literarisch so grandioses unvergessliches Werk, dass es zu Recht für den Buchpreis der diesjährigen Leipziger Buchmesse nominiert wurde.

 

# David Wagner: Leben; 285 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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