NATHAN ENGLANDER: "WORÜBER WIR REDEN; WENN WIR ÜBER ANNE FRANK REDEN"

Nathan Englander gilt als einer der großartigsten zeitgenössischen Autoren, wenn es um Kurzgeschichten geht. In seinem jüngsten Sammelband zeigt der jüdische US-Schriftsteller unter dem Titel "Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden" seine Meisterschaft, in der er gekonnt mit einer brillanten Mischung aus Tragik und Komik jongliert.

Das Jüdisch-Sein wird zentrales Thema in immer wieder verblüffenden Konstellationen. Wie schon in der titelgebenden Geschichte, die den Reigen der acht Short Stories eröffnet, indem sie bereits eine Facette jüdischer Schizophrenie offenbart, wenn ultraorthodoxe mit "weltlichen" Juden um die Meinungshoheit wetteifern. Das führt zu abstrusen Missverständnissen und Gegensätzen und die beiden Seiten entwickeln einen Eifer, der geradezu antisemitische Aspekte entfaltet.

Mit seinem hintergründigen trockenen Humor, der zuweilen ins Tiefschwarze entgleitet, unterfüttert er beim Besuch einer Peepshow die Abgründe von Moral und Schuldgefühlen so beißend, dass man die aufkommende Peinlichkeit geradezu handgreiflich mitempfindet. Und nur ein jüdischer Autor dürfte so provozierend bis ätzend über die allgemein üblichen Vorurteile - und ihre mögliche Berechtigung - schreiben, wie das hier insbesondere über den Alltag in Israel selbst geschieht.

Ebenso intelligent wie emotional mokiert er sich gar über die typische Paranoia vieler Juden. Und er wagt es selbst, mit der Shoa makabren Scherz zu treiben, wo die Pointen durchaus schmerzhaft unter die Haut gehen und den Leser verwirrt und nachdenklich zurücklassen. Das gilt insbesondere für das krönenden Finale mit der Erzählung "Gratisobst für junge Witwen", die man vielleicht nur als eine zutiefst jüdisch-israelische Geschichte um den Grundsatz "Auge um Auge - Zahn um Zahn" vor dem Hintergrund des Holocaust begreifen kann.

Wie dort ein Professor einst tötete und wie man über das Töten zum Philosophen werden kann - das liest sich verstörend und von furchterregender Logik. Und Nathan Englander entgleist dank seiner eleganten lakonischen Sprachgewalt zu keiner Zeit. Fazit: virtuose Kurzgeschichten, ein Lesegenuss und zugleich eine Herausforderung, denn der Autor überlässt die moralische Wertung dem Leser.

 

# Nathan Englander: Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden (aus dem Amerikanischen von Werner LöcherLawrence); 236 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München: € 18,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 895 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de