NEAL STEPHENSON: "ERROR"

Nach Wälzern wie "Cryptonomicon", der bombastischen Barock-Trilogie oder dem ScienceFiction-Roman "Anathem" beweist US-Kultautor Neal Stephenson, dass er auch einen veritablen Action-Thriller virtuos zu schreiben versteht. Und - man stelle sich einen Thriller mit dem Umfang eines der ganz großen Epen wie von James Mitchener dabei vor.

"Error" lautet der Titel und der Meister bringt seine Leidenschaft für das digitale Zeitalter so gewinnbringend mit ein, dass auch weniger IT-affine Leser ein unbändiges Vergnügen an diesem globalen Abenteuerroman aus der jüngsten Zukunft haben. Am Anfang steht eine Ouvertüre im ländlichen Iowa, wo Richard Forthrast eine Thanksgiving-Party feiert. Dieser Endfünfziger floh einst vor der Einberufung in die US-Army nach Kanada, kam als Kleinkrimineller zu erstem Geld und schließlich mit Online-Spielen zu einem Vermögen.

Sein Geniestreich war "T'Rain", ein sogenanntes Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel (MMORPG), das längst Millionen von Mitspielern hat. Aber auch hohes Suchtpotential, zumal das höchst komplexe Spiel (man denke an "World of Warfare"!) ein exzellentes Instrument für das sogenannte Goldfarming ist, bei dem virtuell für ebensolche Waren oder Waffen erworbenes Geld zu realem gemacht wird - etwas, das tatsächlich bereits existiert und vor allem von vielen asiatischen Teenagern teils professionell praktiziert wird.

Während Forthrast gerade Zula, die eritreische Adoptivtochter der Familie, als Programmiererin bei "T'Rain" unterbringt, erlaubt sich ein kleiner chinesischer Ganove einen cleveren Trick mit Folgen. Er schleust als Mitspieler den Computervirus "Reamde" in den Server des Spiels ein, der nun wichtige Daten verschlüsselt. Die weltweit involvierten Spieler müssen für die Decodierung ein Lösegeld im Spiel hinterlegen. Innerhalb der Spielerwelt führt das zu massiven Verwicklungen, aber eben nur virtuell.

Das eigentlich Fatale ist jedoch, dass "Reamde" aber auch in der realen Welt Computer befällt und Dateien blockiert. Das passiert unter anderem ausgerechnet bei einem Deal mit der russischen Mafia und deren Bosse reagieren bei solchen Dreistigkeiten extrem humorlos. Damit wird nun eine riesige Kettenreaktion losgetreten, denn die Russen reisen mit Geiseln zum mutmaßlichen Sitz des Virus-Auslösers in China und eine dieser Gefangenen ist - nicht ganz zufällig - Zula Forthrast. In der Hafenstadt Xiamen aber geraten die rachsüchtigen Russen mit islamischen Dschihadisten aneinander, die gerade weltweite Terroranschläge planen.

Das Alles ist jedoch erst der Anfang einer actionreichen Jagd, in die auch eine britische Geheimagentin, ehemalige russische Elitesoldaten, US-Hinterwäldler und weitere illustre Figuren auf etlichen Ebenen in einer höchst raffiniert komponierten Geschichte verstrickt sind. Der Autor fesselt trotz mancher Abschweifungen, da die Charakter- und Landschaftsbeschreibungen mit seiner präzisen Sprachgewalt und einem steten hintergründigen Humor glänzen. Dank hervorragender Recherche wirkt dieses Verweben von virtueller und realer Welt zudem ausgesprochen authentisch und geschieht aus vielen Perspektiven gewissermaßen in Echtzeit.

Wenn der breite und dennoch stets schnell fließende Handlungsstrom dieses faszinierenden Romans schließlich in einen regelrechten Kleinkrieg im Gebirge mündet, ist der Leser selbst nach bis dahin gut 900 Seiten nicht übersättigt. Und er wird sich kein Überspringen vermeintlich eher abseitiger Passagen erlauben, denn alles ist interessant und überall sind wichtige Informationen für das gesamte Geschehen eingeflochten. Fazit: ein grandioses Stück anspruchsvoller Literatur von einem Autor, der längst zu den größten zeitgenössischen Erzählern gerechnet wird.

 

# Neal Stephenson: Error (aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl); 1024 Seiten; Manhattan Verlag, München; € 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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