CRAIG SILVEY: "WER HAT ANGST VOR JASPER JONES?"

Charlie Butkin ist 13, schmächtig, Brillenträger mit Insektenphobie und er stöhnt momentan unter der großen Sommerhitze hier in dem Provinzstädtchen Corrigan. Als unsportliche Leseratte genießt er geringes Ansehen bei den sportbegeisterten Mitschülern und ist typischerweise befreundet mit einem anderen Außenseiter, dem vietnamesischen Jeffrey, der aus rassistischen Gründen gemobbt wird - man schreibt das Jahr 1965.

Mitten in einer Vollmondnacht steht nun plötzlich Jasper Jones vor Charlies Schlafzimmerfenster, ein noch größerer Außenseiter, Mischlingsssohn eines Trinkers, dessen Aborigine-Mutter vor Jahren bei einem mysteriösen Unfall ums Leben kam. Dieser charismatische Sonderling bittet Charlie dringen um Hilfe und weil Jasper ausgerechnet ihn dazu auserkoren hat, überwindet dieser seine übliche Ängstlichkeit und begleitet den nur ein Jahr Älteren, der allerdings um einiges älter wirkt.

Damit beginnt Craig Silveys Jugendroman "Wer hat Angst vor Jasper Jones?", der in dessen australischer Heimat bereits vielfach aufgezeichnet wurde und ein höchst komplexes Geschehen eröffnet, das sofort eine ungeheure Sogwirkung entfaltet. Ich-Erzähler Charlie stiehlt sich also tatsächlich fort von zu Hause und wird von Jasper in den nahen Busch geführt, wo er seine heimliche Nische vor der Außenwelt hat. Doch auf dieser idyllischen Lichtung an einem kleinen See sieht Charlie Schreckliches: am mächtigen Ast eines großen Baumes baumelt Laura Wishart, älteste Tochter des Bezirkspräsidenten.

Zerschunden sieht sie aus und Jasper, der sich immer wieder heimlich mit ihr getroffen hat, weißt was ihm blüht, wenn sie entdeckt wird - jedermann würde sofort ihn verdächtigen. Gemeinsam versenken die Jungen den Leichnam deshalb im See und beschließen, den Mörder ausfindig zu machen. Jasper hat dabei den als verrückt geltenden alten Kauz Jack Lionel im Verdacht. Vor ihm fürchten sich alle Kinder und es heißt, er habe schon einmal eine Frau umgebracht. Doch die Situation ist viel komplizierter und das nicht nur, weil Charlie einen üblen alltäglichen Machtkampf mit seiner keifenden Mutter auszustehen hat und schließlich sogar von beiden Eltern betrogen wird, in einer einzigen Nacht und von jedem für sich.

Zugleich lernt der Junge Eliza kennen, die Schwester Lauras, in die er sich zaghaft verliebt. Nach und nach hat er allerdings das Gefühl, dass das Mädchen mehr über das Schicksal seiner Schwester weiß, als sie sagt. Aber auch ansonsten kommt der introvertierte Charlie mit seinem untrüglichen Gespür für Lügen in diesem besonderen Sommer hinter so manches unangenehme Geheimnis. Und er, der die Bücher von Mark Twain liebt und noch mehr Harper Lees Klassiker "Wer die Nachtigall stört", geht mit Jasper auf eine Detektivjagd fast im Stil von Tom Sawyer und Huckleberry Finn.

Bei der sie eine Riesenüberraschung erleben, als sie den alten Jack Lionel heimsuchen, denn hier offenbart sich das Geheimnis um Jaspers Mutter und deren tragischen Tod - aber anders, als sie je vermutet hätten. Und die harschen Wendungen halten an, offenbaren einen Kosmos von sozialer Ausgrenzung, von unverhohlenem Rassismus, sexuellem Missbrauch und vielem mehr. Dieser Sommer des unfreiwilligen Erwachsenwerdens zeigt sich ebenso vielschichtig wie packend und wem zwischendurch einige längere Passagen über den anglo-australischen Volkssport Cricket zu ausführlich sind, der sollte sie getrost überspringen.

Gleich mehrere tiefgründige Handlungsstränge prägen diesen gesellschaftskritischen Roman und allesamt sind sie meisterhaft ausgearbeitet und ergeben schließlich ein Ganzes, das bis zuletzt fesselt und überzeugt. Die Charakterzeichnungen sind exzellent und die teils rüde Sprache wirkt zunehmend angemessen, zugleich glänzt Autor Silvey immer wieder mit brillanten Formulierungen und Bildern. Fazit: ein anspruchsvoller Jugendroman, der nicht nur junge Leser ab 15 Jahre begeistern wird. Und eine hervorragende Vorlage für einen spannenden Film wäre er sowieso.

 

# Craig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? (aus dem Englischen von Bettina Münch); 414 Seiten; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek; € 16,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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