GIANLUIGI NUZZI: "SEINE HEILIGKEIT"

Bis ins Mark erschüttert hat den Vatikan, was dann von dort in Anlehnung an die Wiki-Leaks bald schon "Vatileaks" genannt wurde: dass haufenweise Dokumente aus dem Innersten des sonst so hermetisch in sich geschlossene Kirchenstaates und dort sogar aus dem Schreibtisch des Papstes an die Öffentlichkeit gelangten.

Dieser beispiellose Akt begann bereits bei der Beisetzung von Papst Johannes Paul II. im April 2005, als dem bekannten Fernsehjournalisten Gianluigi Nuzzi von einer Quelle mit dem sinnigen Decknamen "Maria" die ersten Dokumente zugesteckt wurden. Inzwischen wurde ein ganz enger Vertrauter von Papst Benedikt XVI. als Täter verhaftet, dessen Kammerdiener Paolo Gabriele. Nicht nur Nuzzi zweifelt an der Täterschaft und vor allem daran, dass es nur einen Sammler und Übermittler gab.

Während der Vatikan über die Freveltat schäumt, hat Nuzzi aus den gesammelten Papieren ein Buch verfasst und unter dem Titel "Seine Heiligkeit" ist es jetzt auch auf Deutsch erschienen. Vieles darin befasst sich zwar mit italienischen oder innervatikanischen Vorgängen, doch allein schon die Einblicke in dieses wie eine Geheimorganisation abgeschotteten Staats- und Kirchengebilde sind eine Sensation für sich. Aber auch für hiesige Leser gibt es Interessantes zu erfahren, wenngleich die konkreten Aufreger längst nicht mehr gänzlich unbekannt sind.

Allen voran die Konfrontation zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (evangelische Pastorentochter!) und dem deutschen Papst Benedikt, nachdem der die Exkommunizierung der vier Lefebvre-Bischöfe aufgehoben hatte. Darunter auch die von Richard Williamson, der kurz zuvor im schwedischen Fernsehinterview den Holocaust in Abrede gestellt hatte. Versagte die sonst so potente weltweite Informationsmaschinerie des Vatikan hier oder unterschätzte sie einfach nur die Brisanz des Vorgangs, rätselt Nuzzi.

Merkels öffentliche Forderung, Papst und Vatikan müssten "eindeutig klarstellen, dass es keine Leugnung des Holocausts geben darf", verstand Benedikt nach seinen eigenen Niederschriften als "eine schwerwiegende und ungerechtfertigte Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten". Interessanter als dies ist jedoch seine intern offen postulierte Empörung über die zaghafte Reaktion seinen Berliner Nuntius Périsset: "Klare Worte des Protestes wären nötig gewesen."

Während er mit Périsset immer wieder unzufrieden ist, empfindet er gegenüber dem deutschen katholischen Klerus wegen dessen Unbotmäßigkeit regelrechte Verbitterung. Die trifft insbesondere Kardinal Lehmann und wiederum den Nuntius, denn diese hatten sich mit ihrer Anmahnung, der Pontifex müsse sich bei den Juden und den Kirchenmitgliedern entschuldigen, eine Dreistigkeit erlaubt, nämlich "den Heiligen Vater kritisiert".

Wie wenig die obersten Katholikenvertreter in Benedikts Heimat die reine Lehre achten, musste er außerdem beim "Weltbild"-Skandal erfahren. Weltweit waren Katholiken entsetzt zu hören, dass dieses Buchhandelsunternehmen mit Milliardenumsatz, das zu 100 Prozent den deutschen Diözesen gehört, einen erheblichen Teil seiner dicken Gewinne mit erotischen und esoterischen Büchern einfährt. Unter den rund 2500 bedenklichen Titeln sollen sogar welche über Satanismus sein.

"Betrübt" und "verwundert" sei der Papst über die erneuten schlechten Nachrichten von daheim gewesen. Die umgehende Anweisung, den besudelten Buchhändler zu verkaufen, befolgten die Bischöfe mit Beratungen und der Absicht, das profitable Unternehmen in eine gemeinnützige Stiftung umzuwandeln. Ob die Kurie derweil für "saubere Verhältnisse" gesorgt hat - der aktuelle Versuch zeigte, dass zum Beispiel die Schmuddelromane von Charlotte Roche oder die für ihre expliziten Sexszenen berühmten Romane von Henry Miller weiter im Internetangebot stehen.

Immer wieder wird in den Dokumenten deutlich, welch gravierende Rolle Geld im Weltreich des Katholizismus spielt. So schmerzten in den folgenreichen sexuellen Missbrauchsfällen die Entschädigungszahlungen unübersehbar weit mehr als die Taten selbst und ihr unabsehbarer Imageschaden. Und Berlusconis "Bunga Bunga" wird zwar von italienischen Bischöfen angeprangert, nicht aber von der Vatikan-Führung, schließlich ist der Medienmogul ein Verbündeter im Kampf gegen die Homo-Ehe.

Doch auch der Umgang mit widerborstigen liberalen Kirchenfürsten oder Kritikern in den eigenen Reihen ist von Brüderlichkeit und christlicher Nächstenliebe ziemlich ungetrübt. Da wird gegeneinander taktiert, denunziert und diffamiert wie in einem unglaublichen Intrigantenstadel und der oberste Kirchenfürst - nach römisch-katholischem Selbstverständnis sogar der Stellvertreter Gottes auf Erden - erweist sich in Schrift und Wort als überforderter, in vorgestrigen Denkschemata gefangener Greis an der Spitze einer spirituellen aber auch wirtschaftlichen Weltmacht.

Wer dieses Enthüllungsbuch nun als Schmähschrift gegen die katholische Kirche einstufen will, tut Autor Nuzzi Unrecht, denn der wendet sich mit seinen Darlegungen weder gegen den Glauben noch gegen die Kirche als solche. Die Motive seiner Quelle "Maria" dagegen wären eher zu hinterfragen. Schnöder Mammon kann es jedoch nicht gewesen sein, denn Nuzzi versichert, dass er keinen Cent für die Dokumente gezahlt hat. Die im Übrigen sinnvollerweise in Originalkopien und teils in deutscher Übersetzung im Buch angehängt sind.

Fazit: weniger die meisten Einzelheiten als der Vorgang an sich machen dieses Buch zu einer Sensation, allerdings hätten vermutlich selbst schärfste Kirchenkritiker wohl kein derartig verheerendes Sittenbild des Vatikan erwartet.

# Gianluigi Nuzzi: Seine Heiligkeit (aus dem Italienischen von Enrico Heinemann, Walter Koegler, Christiane Landgrebe, Antje Peter und Rita Seuß); 415 Seiten; Piper Verlag, Munchen; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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