NEAL SHUSTERMAN: "VOLLENDET"

Erst die "Charta des Lebens" als Zusatz zur Verfassung konnte den zweiten Bürgerkrieg in den USA beenden. Dieser sogenannte Heartland-Krieg zwischen Abtreibungsgegnern und Abtreibungsbefürwortern führte zu der allgemein in der Gesellschaft anerkannten Praxis der sogenannten Umwandlungen.

Danach gilt menschliches Leben von der Empfängnis bis zum 13. Geburtstag als unantastbar. Ab dem 13. Lebensjahr bis zur Volljährigkeit mit 18 aber können Eltern ein Kind gewissermaßen rückwirkend "abtreiben". Bedingung ist jedoch, dass das Leben des Kindes "streng genommen" nicht endet. Der Vorgang, mit dem das Leben eines Kindes abgeschlossen wird, das Kind aber dennoch am Leben bleibt, wird Umwandlung genannt. In der konkreten Umsetzung bedeutet das in keinem Fall Mord, denn sämtliche Organe und Körperteile werden recycelt und leben in vielen Menschen weiter.

Diese haarsträubende Erläuterung zu Neal Shustermans neuem Jugendroman "Vollendet" ist nötig, um zu verstehen, warum der 16-jährige Connor und die 15-jährige Risa sich auf die Flucht begeben. Connor ist der klassische Fall eines Wandlers, denn der aufbrausende intelligente Teenager ist als ungebärdiger Rebell so oft angeeckt, dass seine Eltern heimlich die dreifachen Formulare für die unumkehrbare Umwandlungsverfügung unterschrieben haben. Als Connor kurz vorm Auftauchen der für die Abholung zuständigen JuPo dahinter kommt, ist er entsetzt und flieht sofort.

Als die Schergen des Staates ihn jedoch bald schon umkreisen, rettet er sich auf spektakuläre Weise, wobei er ein - nie als solches gemeldetes - großes Autobahnchaos verursacht. Das ihn im Übrigen recht bald in Wandler-Kreisen zum legendären Flüchtling von Akron macht. Eines der verunglückten Fahrzeuge ist dabei der Bus, mit dem Risa zur Umwandlung im sogenannten Ernte-Camp gebracht werden soll. Sie ist als gänzlich unschuldiges Opfer die bedauernswerte zweite Variante von Wandlern: als Waisenkind.

Da ihr Musiktalent nicht für eine erfolgversprechende Karriere reicht, fällt sie als Mündel des Staates unter die Sparzwänge zugunsten neuer Waisenkinder. Um so begieriger ergreift sie die Chance zur Flucht zusammen mit Connor. Der aber hat in höchster Not noch eine Geisel genommen, den jungen Lev. Auch er war auf dem Weg zum Ernte-Camp, allerdings steht er für eine dritte Art der Wandler mit dem wohl zynischsten Hintergrund: als sogenanntes Zehntopfer religiöser Fanatiker. Als zehntes Kind dieser reichen Familie wurde er von klein auf dahingehend getrimmt, welch hehre Gottesgabe sein Opfer sein wird.

Lev bleibt bis zuletzt die schillerndste Figur des gesamten Romans, nicht nur, weil er lange immer wieder versucht, seine Entführer und sich selbst auffliegen zu lassen. Erst als ihm der wichtigste Mensch in seinem gerade 13-jährigen Leben die Augen öffnet, vollzieht er einen Überzeugungsschwenk mit dramatischen Folgen. Für alle Drei jedoch steigert sich die Flucht zu einer atemberaubenden Achterbahnfahrt um das nackte Leben.

Und sie sind nicht die einzigen Flüchtlinge, wie sie bald herausfinden, ja, es gibt sogar eine höchst konspirative Fluchthelferorganisation, deren Ziel der sogenannte Friedhof ist. Unter den Wandlern, bei denen jeder seine düstere tragische Geschichte hat, die oft an seelischer Grausamkeit kaum zu überbieten ist, mit der er zum Ersatzteilieferanten erklärt wurde. Doch in diesem Kampf ums schiere Überleben entwickeln sich auch spannende gruppendynamische Prozesse und Connor erwächst in dem ebenso herrschsüchtigen wie heimtückischen Roland ein lebensgefährlicher Rivale.

Aber auch die Nebenstränge erweisen sich als so packend und gänsehauttreibend wie der gesamte Roman. So spielt das "Storchen" mehrfach eine Rolle, dabei legt eine Mutter ihr ungewolltes Kind vor einem Privathaus ab und die Finder sind gesetzlich verpflichtet, es als das ihre zu übernehmen - mindestens bis zum 13. Geburtstag also. Lev wiederum hat auf seiner zeitweiligen Einzelflucht einen wichtigen Begleiter in dem quirligen CyFi. Der ihn schon bald das Grausen lehrt, denn der smarte junge Mann hatte nach einem Unfall einen Hirnlappen eines Wandlers implantiert bekommen. Dieses Achtelgehirn macht sich nun auf seine Weise bemerkbar.

Wohin dieser infernalisch spannende und tief unter die Haut gehende Roman schließlich steuert, sei hier nicht verraten. Wohl aber, dass er brennende Frage aufwirft über das Recht auf Leben, die Würde des Menschen und natürlich über Organspenden und Abtreibung. Dazu sei auch eine Grundsatzfrage unter Wandlern zitiert: "Deine Umwandlung ist garantiert schmerzfrei. Sagen sie. Aber wenn jeder Teil von dir am leben ist, nur eben in jemand anderem - lebst du dann, oder bist du tot?"

"Vollendet" ist als Jugendroman geschrieben, doch nicht nur junge Leser ab etwa 15 werden von diesem virtuosen Werk gefesselt und zutiefst beeindruckt sein. Es kann niemanden unberührt lassen und gehört ganz gewiss zu den Büchern, die man nicht mehr vergessen wird. Im Übrigen hätte eine angemessene Verfilmung gewiss alle Voraussetzungen für einen Kultfilm. Und wer das Alles für düstere Zukunftsspinnerei hält - es gab 2003 in einer Geburtsklinik in der Ukraine den konkreten Fall unterschlagener und ausgeweideter Säuglinge!

 

# Neal Shusterman: Vollendet (aus dem Amerikanischen von Anne Emmert und Ute Mihr); 431 Seiten; Sauerländer Verlag, Mannheim;

€ 16,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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