SIBYLLE KNAUSS: "FREMDLING"

Maria hat Anthropologie und Linguistik studiert und nun arbeitet sie mit im Team von Tim Nagel, einem hochkarätigen Forscher im Bereich der Evolutionären Genetik. Schon bald wird sie auch seine Geliebte und lässt sich auf ein haarsträubendes Experiment ein: die künstliche Befruchtung mit dem Erbgut eines vor 30.000 Jahren gestorbenen Neanderthalers. Während des Heranreifens und nach dem fest terminierten Schwangerschaftsabbruch will der Wissenschaftler seine Studien an dem Embryo durchführen.

Das ist der Einstieg zu "Fremdling", einer ebenso aufwühlenden wie fesselnden Geschichte, die Erfolgsautorin Sibylle Knauss ohne ScienceFiction-Einschlag zu einer Art anthroposophischem Roman gemacht hat. Die Insemination gelingt, doch mit einem haben weder der skrupellose Forscher noch die leichtfertige Maria gerechnet - spätestens, als sie die ersten Ultraschallbilder des Fötus sieht, sind auch die ursprünglichsten aller Gefühle da, Muttergefühle.

Nicht einmal ahnend, was sie damit für sich und noch mehr für das heranwachsende Wesen in sich in gang bringt, widersetzt sie sich dem Abbruch und flüchtet. Sie lässt ihr gesamtes gewohntes Leben hinter sich und taucht mit einem Wohnmobil im Osten unter. Tatsächlich überlebt das Kind die Geburt und Maria verbirgt sich mit ihm in der Einsamkeit der kroatischen Berge, um ihren "Jo" dort aufzuziehen.

Doch unter welchen Bedingungen: die Gene sind voll durchgeschlagen und damit ist der Junge schon äußerlich als das zu erkennen, was er ist, ein Neanderthaler. Sein Körperbau und die vergleichsweise hässliche Gesichtsform sind allerdings nicht einmal seine schlimmsten Auswüchse von Anderssein. Nur mühsam lernt er sich halbwegs sprachlich zu artikulieren, noch viel schlimmer aber wirkt sich der aus seiner genetischen Gegenwart vor 30.000 Jahren stammende Jagdtrieb aus, der sich nicht unterdrücken lässt. So reißt er bald Schafe und Ziegen, um zu überleben, und er nutzt dabei sein angestammtes Verstehen von Tieren aus.

Unweigerlich wird er schließlich entdeckt und gefangen genommen. Das Sensationelle seiner Existenz gerät schnell zum Fluch, noch mehr aber das Missverstehen dieses totalen Fremdlings aus einer sehr fernen Zeit. Es kommt zu Fluchten und erneuten Gefangennahmen und Jo enspricht weder dem Bild des friedfertigen Wilden noch eines besonders verwilderten Kaspar Hausers. "Er ist der einsamste Junge im Universum", heißt es irgendwann von ihm, der nur mit den Geistern der Vergangenheit wirklich kommunizieren kann und für die Öffentlichkeit zunehmend als Gewaltverbrecher, Perverser und Psychopath gilt.

Wohin Jos Weg schließlich führt, sei hier nicht verraten, doch es liegt auf der Hand, dass dieser exzellent geschriebene Roman mit seiner dunklen Färbung tief unter die Haut geht und für ein Happyend nicht taugt. Zugleich wirft er intensive Fragen nach dem Ethos der Wissenschaft auf und wie die Allgemeinheit mit ihresgleichen umgeht, wenn dieser Andere so gänzlich andersartig ist. Fazit: ein großes anspruchsvolles Lesevergnügen, das man lange nicht vergessen wird.

 

# Sibylle Knauss: Fremdling; 384 Seiten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg;

€ 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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