ADAM ZAMOYSKI: "1812"

Napoleons Feldzug in Russland war das wohl größte militärische Desaster aller Zeiten und eine menschliche Tragödie von beispiellosen Ausmaßen. 1812 wurde damit einer der dramatischsten Wendepunkte der Weltgeschichte, denn für den vermeintlich unbesiegbaren FranzosenKaiser begann damit der Niedergang.

Viele Bücher wurden dazu geschrieben, doch wohl keines stellt die Ereignisse auf eine solch umfassende und vielseitige Weise dar wie Adam Zamoyskis epochale Schilderung "1812. Napoleons Feldzug in Russland". Der polnisch-amerikanische Historiker beleuchtet den Feldzug samt Vorbereitungen und Nachwirkungen nicht nur aus beiden Perspektiven, er vertieft die Schidlerungen zudem durch eine ungeheure Fülle von Briefen und Tagebüchern bis hin zu denen einfacher Soldaten.

Am Anfang stehen die Entwicklungen, die zu diesem Krieg zwischen dem mächtigen Herrscher über große Teile Europas und dem Zaren Alexander führten. Schon hier fallen die teils überspannten Ziele sowie massive Fehleinschätzungen und Fehlplanungen auf. So wie die Russen die Größe der aus Truppen vieler Länder bestehenden "Grande Armée" deutlich unterschätzten, setzte Napoleon selbstverständlich auf den "normalen" Verlauf von Einmarsch und möglichst baldiger Entscheidungsschlacht, um den Zaren zum Friedensschluss zwingen zu können.

Doch schon der Einmarsch im Juni 1812 stand unter ungünstigen Vorzeichen für die weit über 500.000 Mann zählende Invasionsmacht, denn Dauerregen, Krankheiten und die offenbar unerwartete Leere und Armut Russlands machten anfangs weitaus mehr zu schaffen als militärische Gegenwehr. Die Versorgung war schwierig und konnte kaum durch Kauf und Plünderung aufgebessert werden. Zugleich zogen sich die Russen kampflos zurück.

Hier räumt Zamoyski jedoch mit dem Mythos einer gezielten Strategie der Russen auf. Dass sie Schlachten auswichen und die Invasoren damit immer weiter ins großenteils unwegsame Land mit schlechten Straßen, vielen Flüssen und leeren Landschaften lockten, beruhte auf schlechter Vorbereitung der zersplitterten russischen Armeen. Als es dann jedoch endlich am 7. September zur ersten großen Schlacht bei Borodino kommt, in der rund 130.000 Franzosen auf etwa ebenso viele russische Truppen des Oberbefehlshabers Kutusow stoßen, erringt die Grande Armée einen Pyrrhus-Sieg - die Verluste der Russen sind zwar größer, der Verlust des größten Teils der Kavallerie aber ist für Napoleon ungleich schwerwiegender. Überdies hatten sich die russischen Soldaten als ungemein zäh und kampfstark erwiesen.

Dennoch marschierte Napoleon nun nach strapaziösen Märschen mit einer Vorfreude auf das rund 115 Kilometer entfernte Moskau als Winterquartier zu. Kutusow und seinen Truppen hinterdrein, die sich jedoch nicht erneut einer womöglich entscheidenden Schlacht stellten, sondern an Moskau vorbeimarschierten. Stattdessen ließ der Militärgouverneur der Stadt, Graf Rostoptschin, Moskau anzünden - eine zerstörte Stadt ohne Lebensmittel und Futter für die so kriegswichtigen Pferde statt eines Quartiers zur Erholung.

Und Napoleon beging den fatalen Fehler, mindestens zwei Wochen zu lange auszuharren und vergeblich auf Verhandlungen mit dem Zaren zu warten, statt die Schlacht zu suchen oder den Rückzug anzutreten, denn Kutusow hatte nur noch 60.000 Mann und die Kosakenarmee war noch weit entfernt. Als er dann am 20. Oktober unverrichteter Dinge abrückte, drehte sich das Schicksal endgültig gegen die Invasionsarmee, denn am 6. November gab es einen unerwartet frühen und überaus heftigen Wintereinbruch mit starkem Frost. Ohne Unterkünfte, ohne Verpflegung und dazu ständig von Kosaken-Einheiten attackiert, brachen teils anarchische Zustände aus: "Nie ist ein Rückzug in größerer Unordnung verlaufen."

Als Napoleon am 9. November in Smolensk eintrifft, herrschen zur Mittagszeit - 15° bei eisigem Nordwind und Schneefall. Doch die Katastrophe verschärft sich weiter und führt in den Horror an der Beresina. Die heldenhaften Pioniere des Generals Eblé schaffen unter größten Verlusten den Bau eines Übergangs über den vereisten Fluss. Gleichwohl entkommen der von gleich mehreren russischen Armeen aufgenommenen Schlacht vom 26. bis 28. November nur rund 55.000 Mann Napoleons. Und Temperaturen von nun -30° sowie ständige Kosakenangriffe und dauerhafter Hunger führen zu Anarchie und Chaos.

In einem unvorstellbaren Alptraum breitet sich völlige Verrohung bis hin zu Kannibalismus aus. Die Schilderungen aus den authentischen Quellen lassen das ganze Entsetzen dieses Elendszuges nur schaudernd erahnen. Wenn die Reste der Grande Armée der endgültigen Vernichtung entgingen, dann nur, weil auch die Russen hohe Verluste erlitten hatten und der altersgeplagte Kutusow eher zur Zögerlichkeit neigte.

Als Napoleon sich schließlich am 5. Dezember nach Paris absetzte - seine vorrangigste Sorge war nun, die vernichtende Niederlage in Europa zu verschleiern - führt diese nach dem Ägypten-Feldzug von 1799 zweite Desertion zu umfassenden Auflösungserscheinungen. Für die restlichen zurückstrebenden Truppen galt der einstige Startpunkt Wilna nun als letzte Hoffnung, stattdessen wurde es zum endgültigen Grab. Die Gesamtzahl der Opfer auf beiden Seiten wird einschließlich der Zivilisten auf rund eine Million geschätzt, in seiner gesamten Art aber war dieser Feldzug der erste "totale Krieg" der Geschichte.

Die Folgen für Napoleon sind bekannt: der Nimbus der Unbesiegbarkeit zerstört, 1813 die Völkerschlacht bei Leipzig, 1814 Abdankung und Rückkehr von Elba, 1815 das Ende mit der Schlacht von Waterloo. Was Adam Zamoyski hier als reales fundiertes Kriegsepos mit erschütternder Detailgenauigkeit und zugleich romanhaft spannend dargestellt hat, verdient nur ein Urteil: das ist lebendige Geschichtsschreibung, wie sie besser nicht vorstellbar ist.

 

# Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland (aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting); 720 Seiten, div. Abb. und Karten; C. H. Beck Verlag, München; € 29,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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