DAVID GUTERSON: "ED KING"

Die berühmte griechische Tragödie um Ödipus, der unwissentlich den eigenen Vater erschlägt und die eigene Mutter zur Frau nimmt und schließlich daran zugrunde geht - David Guterson hat sie ins moderne Amerika verlegt und einen fabelhaften Roman daraus gemacht.

"Ed King" lautet der Titel und dieser junge Mann hat eine einzigartige Karriere vom Findelkind zum Internet-Milliardär hingelegt. Den unheilvollen Beginn jedoch legt der Versicherungsstatistiker Walter Cousins, als dessen Frau in psychiatrischer Behandlung außer Haus ist. Für seine beiden kleinen Kinder holt er sich das englische Au-pair-Mädchen Diane ins Haus. Mit fatalen Folgen, denn er verfällt diesem 15-jährigen Nymphchen sofort und muss sich kein bisschen anstrengen, um sie ins Bett zu kriegen.

Doch das hat Folgen, Walter drängt Diane aber sogleich zur Abgabe des Kindes, das im April 1963 geboren wird. Diane foppt ihn allerdings, legt den Kleinen vor einer alten Villa in Portland ab und erpresst Walter zur Zahlung von Alimenten. Sie selbst steigt als "Candy Dark" zur gut verdienenden Eskort-Dame auf, bis sie mit dem etwas naiven Jim Long aus einer wohlhabenden Unternehmersippe den passenden nichtsahnenden Ehemann findet.

Aus dem Findelkind ist derweil Ed King geworden, Sohn der liberalen jüdischen Familie King. In verschiedenen Handlungssträngen erzählt der Autor entlang der konkreten Entwicklung und dem Zeitgeist der 70er und 80er Jahre von Eds typischen Jugendproblemen, von Dianes Auffliegen ihrer Vergangenheit als Prostituierte, nachdem sie Jim über Jahre über die Gründe für den ausbleibenden Nachwuchs getäuscht hat. Und auch Walter Cousins rückt wieder in den Vordergrund, zunehmend als Versager des Amerikanischen Traums.

Als er einen geradezu lächerlich sinnlosen Unfalltod erleidet, macht sich der tatsächlich Verantwortliche große Vorwürfe, weiß aber nicht, wen er da unwissentlich umgebracht hat - es ist Ed King, mit dem nach blödsinnigen Fahrmanövern des Anderen das Temperament durchgegangen war. Eines aber hat er von seinem unbekannten Erzeuger geerbt: das hochgradige mathematische Talent. Und als er nun am Anfang der 80er Jahre Mathematik studiert, zeigt er außergewöhnliche Fähigkeiten beim Austüfteln von Algorithmen.

Sein Professor bringt Ed auf die entscheidende Idee, als sie gemeinsam Computer-Kisten für den Versand verpacken: "Das ist vorsintflutlich, Kisten mit Datenmaterial - ein Witz. Das alles müsste kein Gramm wiegen." In einem typisch amerikanischen Karrierelauf wird Ed King nun so etwas wie Bill Gates und Steve Jobbs in einem, als er die Internetsuchmaschine "Pythia" entwickelt und zum einflussreichen Milliardär aufsteigt.

In den Studententagen hat Ed aber noch etwas für sich ganz persönlich entdeckt: einen Hang zu etwas reiferen Frauen. Und so beginnt schließlich der Ödipus-Tragödie zweiter Teil, als sich Ed und Diane begegnen, sie inzwischen zwar attraktiver denn je, aber auch um einige herbe Nackenschläge in ihrem unruhigen Leben reicher. Die Beiden sind sofort aufs Innigste ein Paar und bald schon heiraten sie auch.

Damit wird aus dem guten Roman ein grandioser, denn das Schicksal holt den Internet-König mit einer alltäglichen Volte ein. Sein Bruder Simon erkrankt an Krebs und die beiden lassen über Eds neueste technische Errungenschaft einen Genomabgleich machen. Das Ergebnis aber macht Ed fassungslos - die Kings waren nicht seine Eltern, haben die Adoption aber vor jedermann geheim gehalten. Natürlich will dieser fast allmächtige 54-jährige Edward Aaron King, der inzwischen daran arbeitet, sein geniales "Pythia"-System mit der neuen künstlichen Intelligenz "Cybil" noch zu übertreffen, die wahren Hintergründe erfahren.

Aber - öffnet er mit seinen fast unbegrenzten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung womöglich die Büchse der Pandora? "Die Wahrheit macht dich frei", glaubt der so überaus rational denkende Ed. Und ist erschüttert, als er erfährt, wen er da mit 16 Jahren bei dem Unfall wirklich getötet hat. Da ist die Wahrheit über die heimliche Adoption und dass ihn seine leibliche Mutter ausgesetzt hat, ein weiterer Grund für ohnmächtige Empörung. Doch er kann nicht mehr einhalten und deckt auch das letzte Geheimnis auf - und wird in seinem seelischen Aufschrei schließlich zum Ikarus.

Das Grobgeflecht dieser ebenso altgriechischen wie modernen Tragödie mag zwar in mancher Hinsicht vorausschaubar sein, das wahrhaft Packende sind jedoch die Details und die überraschenden Wendungen. Und selbst wo Passagen recht ausführlich zu sein scheinen - jedes Detail ist von Bedeutung, um das großartige Finale in voller Pracht genießen zu können. Fazit: ein Meisterwerk, das bis zur letzten Zeile fesselt.

 

# David Guterson: Ed King (aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich); 383 Seiten; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg;

€ 22,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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