MICHAEL ONDAATJE: "KATZENTISCH"

Michael Ondaatje, Autor des Meisterwerks "Der englische Patient", wurde 1954 als Elfjähriger aus seiner Geburtsheimat Ceylon (heute Sri Lanka) zu seiner Mutter nach London geschickt. Sie hatte sich von dem wohlhabenden Quartalssäufer Mervyn Ondaatje scheiden lassen und nun war der Junge drei Wochen lang unterwegs.

Über 50 Jahre später legt Ondaatje den Roman "Katzentisch" vor, der eine sehr ähnliche Geschichte erzählt. Im Nachwort versichert der Autor jedoch, dass es sich wirklich um einen allenfalls autobiografisch angehauchten Roman handelt. Was man gern glaubt, denn der ist so reich an spannenden Ereignissen und außergewöhnlichen Figuren, wie es für ein reales Erleben in einer solchen prachtvollen Fülle kaum vorstellbar wäre.

Gleich zu Beginn wird Ich-Erzähler Michael im Speisesaal an den titelgebenden Katzentisch gesetzt, der von allem Tischen weitesten von dem des Kapitäns mit den besonders feinen Passagieren entfernt ist. An dem sammeln sich nun diejenigen, die auf der sozialen Skala zum unteren Ende gehören. Was sich für den Jungen als Glücksfall erweist, denn all die kauzigen Typen hier sind ungleich interessanter in diesem seltsamen von Erwachsenen dominierten Kosmos des riesigen Schiffes.

Außerdem hat Michael zwei sehr unterschiedliche gleichaltrige Jungs zur Seite, Cassius und den philosophischen Ramadhin. Umgehend erwächst aus dem Trio eine Lausbuben-Bande, die als Plage durch sämtliche Decks geistert mit dem festen Vorsatz, jeden Tag mindestens ein Verbot zu übertreten. Ihr Versteck haben sie tief im Bauch des Schiffes, dabei sind sie für die Befehlshabenden an Bord ohnehin quasi unsichtbar.

Die Drei mopsen allerdings nicht nur Delikatessen vom Büffet der 1. Klasse und vertilgen die Beute in einem Rettungsboot. Immer wieder belauschen sie obskure oder skurrile Gespräche von Erwachsenen, geraten aber auch in die ein oder andere gefährliche Situation. So lässt sich Michael von einem falschen Baron in Luxuskabinen schleusen, um diese für den Dieb von innen zu öffnen. Für eine Grenzerfahrung seilen sich die Jungs in einer der verrücktesten Passagen sogar an Deck an, um dort reichlich hautnah zu erfahren, wie sich ein ausgewachsener Orkan anfühlt.

Besonders hinreißend sind all die krausen Typen am Katzentisch geraten. Da ist der ständig berauschte Botaniker Daniels, der tief im Schiffsbauch Giftplanzen anbaut, der melancholische Pianist Max, der obszönen Liedern frönt, oder die alte Jungfer Lasquetti mit den lebenden Tauben in ihren Taschen. Und nicht zu vergessen Michaels sechs Jahre ältere Cousine Emily, durch die er den Hauch einer ersten Ahnung von Erotik erhält.

Sie aber wird das ganz spezielle Opfer eines ominösen Wahrsagers. An Bord wird nachts ein geheimnisvoller Kettensträfling herumgeführt, vermutlich ein Mörder. Emily ist schließlich die entscheidende Person, die ihm zur Flucht verhilft - was ihr gesamtes späteres Leben düster prägen wird. Ohnehin mögen zwar drei Elfjährige im Mittelpunkt stehen, dennoch ist "Katzentisch" ein ganz und gar erwachsener Roman, denn die vielfältigen Schicksale der grandios gezeichneten Charaktere umgeben eine Art Abschied von der Kindheit, auch wenn die Jugend für die Jungs gerade erst in Reichweite kommt.

Es ist eine Metamorphose, die nicht nur Michael durchlebt, aufregend und zuweilen auch schmerzlich, und der Junge, den seine Mutter in London in die Arme schließt, ist ein anderer als der, der in Colombo ahnungslos vom Leben das Schiff bestieg. Zugleich fasziniert das Alles als Panoptikum und menschliche Komödie in meisterhafter Prosa, in der so manche Metaphern funkeln und bei aller Tiefe die Komik nicht zu kurz kommt. Fazit: ein wahres literarisches Juwel.

 

# Michael Ondaatje: Katzentisch (aus dem Englischen von Melanie Walz); 301 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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