"MICHAEL KÖHLMEIERS MÄRCHEN-DEKAMERONE"

"Es war einmal...", so fangen alle Märchen an. Wirklich alle? Zumindest sehr ähnlich, wie Michael Köhlmeiers "Märchen-Dekamerone" belegt, für das der österreichische Romancier einen Querschnitt aus tausenden von Märchen aus aller Herren Länder in einem prachtvollen band zusammengetragen hat.

Der Untertitel verrät die Absicht: "Eine Weltreise in hundert Geschichten". In seinem Vorwort erklärt der Autor, wie sich die Märchenmotive oft erstaunlich ähneln und wiederholen, obwohl es keinen Austausch gab zum Beispiel zwischen der russischen und der karibischen Erzählkultur. Köhlmeier führt die These C.G. Jungs vom kollektiven Unbewussten und den Archetypen an und erläutert, warum es uns nicht schwer fällt, auch Märchen aus völlig anderen Kulturkreisen zu verstehen.

Es sind die Moralvorstellungen in den Geschichten, die sich weltweit nicht nennenswert unterscheiden. Da wird der böse Gesetzesbrecher bestraft und die Guten und Fleißigen belohnt. Doch auch die Ebenen des Übernatürlichen liegen nicht weit auseinander, denn was bei den Gebrüdern Grimm die Feen, Zwerge und sprechenden Tiere sind, erscheint in fernen Kulturen zum Beispiel als Geister und Dämonen.

Märchenliebhaber Köhlmeier, der sich liebevoll an eine echte Vorlese-Großmutter erinnert, hat diese Weltreise übrigens nicht geografisch geordnet sondern nach zentralen Themenbereichen wie "Bruder und Schwester", "Der Tod und die Liebe" oder "Verwandelt, verzaubert, verflucht". Jedem dieser Abschnitte hat er einführende Worte vorangestellt, wogegen jedes Märchen seine Herkunftszuordnung mit einem sinngleichen Satz erhält wie "So wird in Irland/bei den Bantu Ostafrikas/von den Brüdern Grimm erzählt".

Die wunderbare Weltreise in Märchenform empfiehlt sich als Hausbuch für die ganze Familie und hier insbesondere zum Vorlesen. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass manche der Märchenschätze aus fernen Ländern in ihren Strafen noch grausamer sind, als wir es von den Grimm'schen Märchen gewohnt sind, so dass die Leser/Zuhörer mindestens etwa zwölf Jahre alt sein sollten.