CHAN KOONCHUNG: "DIE FETTEN JAHRE"

Der Roman "Die fetten Jahre" führt in die Weltmacht China und fasziniert mit Visionen der ganz nahen Zukunft, aber mindestens ebenso sehr mit mal dezenter, mal direkter Kritik an den realen Zuständen in Gegenwart und jüngster Vergangenheit.

Grund genug dafür, dass dieses grandiose Stück Literatur im Reich der Mitte nur unter der Hand erhältlich ist, schließlich scheut sich der in Peking lebende Autor Chan Koonchung nicht, von der "Scheinheiligkeit der Kommunistischen Partei", vom totgeschwiegenen Massaker vom 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens und anderen großen und kleineren Sünden des autokratischen Systems zu reden. Im Mittelpunkt aber steht das Jahr 2013, in dem in China "Das Goldene Zeitalter des Friedens und des Wohlstands" angebrochen ist.

Das genießt auch der alternde Journalist und Schriftsteller Chen. Zwar wundert sich der gebürtige Taiwaner zuweilen über die kollektive Euphorie sämtlicher Bürger. Doch sie ist ja verständlich, denn allen geht es gut und dem Konsum sind kaum Grenzen gesetzt, nachdem Chinas Staatskapitalismus gesiegt hat. Als die zweite Weltfinanzkrise kurz nach der von 2008 auf einen Schlag den Wert des Dollars um ein Drittel abstürzen ließ und weltweit eine wirtschaftliche Eiszeit die Vorherrschaft des Westens endgültig zerbrach, hat das Riesenreich als einzige Wirtschaftsmacht sich gewissermaßen am eigenen Schopf aus der Krise gezogen.

Dank der Rückbesinnung auf die gigantische Kaufkraft von über 1,3 Milliarden Einwohnern boomt die liberalisierte Wirtschaft und das Volk lebt im Wohlstand. Entsprechend skeptisch ist Chen denn auch, als er Xiaoxi wiedergebegegnet, in die er zu Studentenzeiten schon einmal hoffnungslos verliebt war. Sogleich flammen die alten Gefühle wieder auf, ihren Verschwörungstheorien über üble Machenschaften beim Umbruch in die neue Ära schenkt er gleichwohl keinen Glauben.

Aber es kommen ihm Zweifel, zumal er bemerkt hat, dass sie beschattet wird und sie dann auch gleich wieder untertaucht. Wie hatte sie doch über den allgemeinen Glückszustand gesprochen: "In der guten Hölle wussten die Menschen, dass sie in der Hölle saßen, und versuchten, sie zu ändern. Doch nach einer Weile im falschen Paradies waren sie so daran gewöhnt, dass sie glaubten, tatsächlich im Himmelreich angelangt zu sein."

Und Xiaoxi ist nicht die Einzige, die vor allem auch wissen will, warum es beim Ausbruch der großen Krise und Chinas Umbruch eine Phase von 28 quasi verschwundenen Tagen gab. Niemand weiß, was damals geschah, ja nicht einmal, dass diese Tage überhaupt stattfanden. Der weit gereiste und stets kritische Fang Caodi bestärkt Chens Zweifel, denn er hat Fragmente aufgetrieben wie Zeitungsreste, die zumindest beweisen, dass es diese Tage im Februar wirklich gegeben hat.

Obwohl das Geschehen auch weiterhin fast ohne größere Ereignisse abläuft, steigern die Vermutungen und Ahnungen die Spannung stetig. Dabei erweist sich der erste Teil des Buches als eine überdimensionierte Einleitung der großen Suchaktion nach der Wahrheit über die 28 Tage und dem Verbleib Xiaoxis. Mit knapper und höchst präziser Sprache führt die exzellente Prosa tief in die Verhältnisse des seit 1949 stramm kommunistisch geführten Landes, wie die Macht funktioniert bis hin zu nachgeordneten Ebenen. Und das Alles ebenso authentisch wie nüchtern kritisch.

Im zweiten Teil macht sich Chen mit Fang auf den Weg und zusammen mit Xiaoxi kommt die kleine, offenbar nicht vom Dauerglückszustand infizierte Gruppe auf die irrwitzige Idee, einen Funktionär aus dem höchsten Staatsgefüge zu entführen, um ihn auszufragen. Chen ist entsetzt, als er in dem Verschleppten seinen wöchentlichen Partner einer kleinen privaten Partyrunde erkennt. Doch nur Chen vermag es dank seiner intellektuellen Cleverness, diesen He Dongsheng zum Reden zu bringen.

Kaum hat der widerwillig ein Glas Leitungswasser getrunken, erzählt er munter und in frappierender Offenheit drauflos - wie sich herausstellt, weil das Trinkwasser seit dem Umbruch systematisch mit MDMA versetzt wird, einem Stoff wie aus den Ecstasy-Pillen. Das ist jedoch eine Bagatell-Erkenntnis im Vergleich zu all dem, was He vom "Plan des Himmlischen Friedens" preisgibt. China brauchte exakt die große Finanzkrise, um den Plan in gang setzen zu können. Als in den bewussten 28 Tagen Chaos und Anarchie ausbrachen, ließ die Führung das Volk erst schmoren, um so größer war der allgemeine Jubel, als Armee und Polizei einmarschierten, um das Volk zu schützen.

Die Maßnahmen für den großartigen Aufschwung klingen geradezu genial mit einer neuen Form der Befehlswirtschaft in einem rückgekoppelten Regulationssystem. Mag dies auch noch recht theoretisch klingen, so sind die wirtschaftspolitischen Maßnahmen bereits ganz real dabei, die globalen Gravitationszentren zu verschieben. Auf die Kritik an der Gängelung des Volkes verweist der Funktionär auf die allseits genossene Neunzig-Prozent-Freiheit. Noch weitergehende politische Reformen würden nämlich nicht die Demokratie fördern, vielmehr drohe dann eher eine sino-faschistische Autokratie.

Und so geht das Riesenreich mit Wohlstand und zufriedenen Bürgern ins post-kontroverse Goldene Zeitalter. Die die 28 Tage übrigens ohne besondere Nachhilfe schlichtweg vergessen haben, und wenn Chen und Xiaoxi am Ende als Liebespaar der Morgensonne entgegen spazieren, dann passt wahrlich kein besseres Finale als dieses plakative Idyll.

Fazit: ein einzigartiger Roman, der seine immense subtile Spannung weniger aus der Handlung als aus den faszinierenden Blicken eines Insiders hinter den Roten Vorhang bezieht. Es heißt, dass Fremde China nicht verstehen könnten - wenn überhaupt, dann ist dieser zuweilen an Huxleys "Schöne Neue Welt" erinnernde Roman eine ungemein wertvolle Hilfe.

 

# Chan Koonchung: Die fetten Jahre (aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling); 302 Seiten; Eichborn Verlag, Frankfurt; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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