ANTONIO MUNOZ MOLINA: "DIE NACHT DER ERINNERUNGEN

Ignacio Abel befindet sich am Ende einer langen Flucht, als er Ende Oktober 1936 in New York in den Zug nach Rhineberg steigt. Daheim in Madrid tobt der Bürgerkrieg mit unvorstellbaren Grausamkeiten, dort hat er Frau und Kinder ohne Abschied hinter der Front zurückgelassen. Seine attraktive, viel jüngere amerikanische Geliebte Judith aber ist spurlos in den Madrider Straßenkrawallen verschwunden.

Auf dem Weg in ein neues Leben versinkt der erfolgreiche Architekt in der Vergangenheit, taucht tief ein in "Die Nacht der Erinnerungen". So lautet auch der Titel von Antonio Munoz Molinas neuem Roman, einem großen Epos aus der Zeit vor und zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs. Der allerdings steht nicht im Vordergrund, vielmehr erzählt der Erfolgsautor eine Geschichte von später Liebe, von Betrug und Verrat - das jedoch im Strom der Zeitgeschichte.

Abel stammt aus einfachen Verhältnissen, dass er nun mit gut 50 bis zum angesehenen Bauleiter der spektakulären neuen Madrider Universitätsstadt Complutense aufgestiegen ist, hat er maßgeblich seiner Heirat mit Adela zu verdanken, damals mit 34 eine sehr späte Jungfrau, aber aus nationalkatholischem Großbürgertum. Mit Beherrschung und Langeweile durchsteht Abel die leidenschaftslose Ehe - bis er im Herbst 1935 Judith Biely begegnet, jung, idealistisch und sehr sinnlich.

Während sich im Land politische Gewitterwolken auftürmen, verliert Abel zunehmend den Kopf in der stürmischen Affäre mit der verlockenden Schönheit. Es sind erlesene erotische Momente, die Molina da einstreut, die jedoch stets mit der starren konventionellen Haltung ohne Emotionen gegenüber der gealterten Adela und den beiden Kindern einhergehen. Und schließlich durch eine selbstvergessene Liederlichkeit zur Aufdeckung kommen.

Als die noch immer hingebungsvoll liebende Adela den Betrug entdeckt, begeht sie einen Selbstmordversuch. Für Judith, die trotz Abels Beteuerungen ohnehin an einer gemeinsamen Zukunft zweifelte, bedeutet dieser Schock das Ende der Beziehung und sie verschwindet über Nacht. Inzwischen tobt bereits der Bürgerkrieg im Land und Abel gerät bei seiner verzweifelten Suche nach ihr in lebensgefährliche Situationen zwischen allen Fronten. Dass er sie in Amerika noch ein letztes Mal trifft, vertieft nur den Schmerz der verpassten Gelegenheiten eines Lebens, denn diese Begegnung wird zu jener titelgebenden einen Nacht der Erinnerungen.

In der spielen dann auch historische und fiktive Personen eine Rolle, allen voran jener deutsch-jüdische Professor Rossmann, den Abel während seiner Studienzeit in Berlin und am Bauhaus in Weimar traf und dem er nach dessen Flucht aus Nazi-Deutschland so wenig Unterstützung zukommen lässt. Abel selbst ist durchaus kein großer Sympathieträger und dennoch eine fesselnde Figur, denn geradezu exemplarisch ist der bekennende Sozialist mit der großbürgerlichen Ehefrau ein unpolitischer und in seiner späten Verliebtheit gefangener Spielball des dröhnenden Barbarentums, mit dem Rechte und Linke das Land im Ringen miteinander zerfleischen.

Das Alles entwickelt mit seiner suggestiven Sprache langsam aber unaufhaltsam eine hohe Sogwirkung im souveränen Erzählstrom und überzeugt mit viel psychologischem Gespür für die Charaktere. Das ist nicht weniger als ein europäische Gesellschaftsroman und zugleich in seiner beinah altmodisch mediterranen Erzählweise mit Prosa vom Feinsten (exzellent ins Deutsche übertragen!) ein ganz großes Stück Literatur.

 

# Antonio Munoz Molina: Die Nacht der Erinnerungen (aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen); 1004 Seiten; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 29,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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