S. J. WATSON: "ICH. DARF. NICHT. SCHLAFEN"

Als Christine Lucas aufwacht, erschrickt sie, denn neben ihr liegt ein fremder Mann mit Ehering am Finger. Hat sie etwa einen Seitensprung mit einem verheirateten Mann gehabt? Was für ein Schock, als der ihr erklärt, er sei ihr Ehemann Ben, nur leider habe sie durch einen Autounfall eine Amnesie erlitten und jede Nacht vergesse sie alles, was sie am Tag erlebt oder erfahren hat.

Das ist die Ausgangssituation für "Ich. Darf. Nicht. Schlafen", dem Debütroman des englischen Autors S. J. Watson, der als Psychothriller firmiert und sich allmählich zu einem ebenso hinterhältigen wie fesselnden Meisterwerk des Genres entwickelt. Christine erzählt selbst und gerade das macht ihre Hilflosigkeit so unmittelbar spürbar, wenn sie alltäglich neu erfragen und erlernen muss, wer sie ist, dass sie 47 und nicht mehr Anfang 20 und seit langem Bens Ehefrau ist.

Doch dann überrascht sie der Anruf von einem Doktor Nash, einem Neuropsychologen, der sich ihres außergewöhnlichen Falles angenommen hat. Er ruft an, um sie wie seit einiger Zeit allmorgendlich an sich zu erinnern und vor allem an die "Geheimwaffe" gegen das totale Vergessen: ein Tagebuch. Verwundert liest Christine über sich selbst, was Ben ihr an den Vortagen über sie und ihn erzählt hat. Und wie rührend er sich seit Jahren um sie kümmert, weil er sie abgöttisch liebt.

Allerdings soll er auf Anraten des Arztes nichts von dem Tagebuch wissen und Christine ist auch beunruhigt, denn gleich auf der ersten Seite steht eine unmissverständliche Warnung, geschrieben in ihrer Handschrift: "Vertraue Ben nicht!" Tatsächlich entdeckt sie Unstimmigkeiten in den Aufzeichnungen, wo Ben sich widerspricht oder sogar offensichtlich lügt. Doch Ben kann die Vorwürfe entkräften, denn zuweilen seien Erlebnisse aus der Vergangenheit zu schlimm, um sie ungefiltert oder überhaupt zu erzählen.

Aber sie ist eine intelligente Frau und bei aller Schutzlosigkeit gelingen ihr Schlüsse, die zu Puzzlesteinen werden, und zu einigen Folgerungen kann Dr. Nash Beweise liefern. Wie die Tatsache, dass die promovierte Christine nicht als Anwaltssekretärin gearbeitet hat, wie Ben behauptet, sondern den Mädchentraum von der Schriftstellerin realisiert hat. Sogar so erfolgreich, dass Zeitungen Rezensionen und Interviews abdruckten. Und ein Zeitungsabschnitt, den Nash ihr besorgt, zeigt sie - schwanger!

Dabei hatte Ben doch ihre Kinderlosigkeit bedauert. Vorsichtig schleicht sie sich an dieses Thema heran, doch Ben reagiert eher besorgt als ärgerlich und berichtet von Sohn Adam. Der sei leider vor einem Jahr als Soldat in Afghanistan umgekommen. Den Kummer durch dieses Wissen habe er ihr ersparen wollen, weshalb er auch keine Fotos von Adam aufgehängt hatte. Vieles an Familienfotos sei ohnehin vor Jahren bei einem Hausbrand verloren gegangen.

Dennoch mehren sich Christines Erkenntnisse über die Vergangenheit und beunrruhigen durch immer neue Widersprüche. Hinzu kommen jedoch auch Erinnerungsblitze voller verwirrender Bilder, wodurch selbst der Unfall fraglich wird, denn da gab es womöglich einen Überfall in einem Hotel. Wahrheit oder Wahnvorstellung? Immerhin war sie sieben Jahre in einer psychiatrischen Klinik und ihre beste Freundin Claire ist auch nicht ausgewandert, wie Ben ihr weismachen wollte. Wem also kann sie trauen und warum kümmert sich Dr. Nash so um sie?

Bis dahin ist der Leser längst unentrinnbar in der subtil aufgebauten Hochspannung gefangen, die durch die dichte vertrauliche Nähe der Ich-Erzählerin bis in das heftig zuschlagende Finale hinein zu einer packenden Intensität erwächst, denn eines empfindet man auf beängstigende Weise mit: "Ich bin das ideale Betrugsopfer." Dank der vorzüglichen Recherche über diese Amnesie-Form und des virtuosen Schreibstils präsentiert Watson mit diesem Roman einen grandiosen literarischen Psychothriller vom Feinsten, der lange nachklingt.

 

# S. J. Watson: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. (aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann); 397 Seiten, Klappenbroschur; Scherz Verlag, Frankfurt; 14,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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