LAURENT SEKSIK: "VORGEFÜHL DER NAHEN NACHT"

„Kühn und zugleich von unendlicher Zartheit, feinsinnig und bewegend" beschreibt die französische Zeitung „Le Figaro" Laurent Seksiks Roman „Vorgefühl der nahen Nacht". Es ist nicht nur eine Hommage an den österreichisch–jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig, mit der Beschreibung der letzten sechs Monate seines Lebens setzt er der gesamten verlorenen Generation der durch die Nazis ins Exil getriebenen Künstler aus dem deutschsprachigen Raum ein Denkmal.

Stefan Zweig war im September 1941 ein Reisender ohne Ziel und ohne Heimat. Schon 1934 war er nach London emigriert. Über verschiedene Stationen landete er schließlich mit seiner zweiten Ehefrau Lotte Altmann, die er 1939 in New York geheiratet hatte. Obwohl er weltweit ein geachteter Schriftsteller ist, dem es materiell besser geht als manchem anderen Schriftsteller im Exil, wird er auch hier nicht heimisch. Genervt außerdem von den unzähligen Bittgesuchen anderer Exilanten, die seine Kräfte überfordern, und auch bedingt durch das Asthma seiner Frau verlassen sie die USA und siedeln sich in dem kleinen Ort Petropolis bei Rio de Janeiro in Brasilien an.

Hier setzt Seksiks Geschichte ein. Voller Euphorie und Hoffnung kommt das Paar in Petropolis an. Lottes Asthma mildert sich auch prompt. Sie werden freundlich aufgenommen und mit dem Verleger Abrahao Koogan und dem ehemaligen Chefredakteur des Berliner Tageblatts Ernst Feder haben sie auch schnell Freunde um sich. Soweit könnte alles in Ordnung sein. Doch die Hoffnung erfüllt sich nicht. Auch hier im hintersten Winkel der Welt kann Zweig dem Verlust seiner eigenen Sprache, seiner Kultur, seiner bisherigen Welt, ja seines eigenen Lebens nicht entfliehen. „Er floh aus New York, weil er dort ganz Berlin und ganz Wien wiedergefunden hatte", lässt Laurent Seksik Zweig denken.

Zwischen diesen beiden Polen, der Hoffnung, in Brasilien ein wenigstens zufriedenes Leben führen zu können, und der absoluten Depression bewegt sich die weitere Geschichte. Bezeichnend ist die Szene als Lotte aus der Zeitung erfährt, dass die USA in den zweiten Weltkrieg eingetreten sind und dies voller Freude ihrem Mann mitteilen will. Der kann ihre Freude jedoch nicht teilen, weil er gleichzeitig erfahren hat, dass in Deutschland und den besetzten Gebieten systematisch und generalstabsmäßig organisiert die gesamte jüdische Bevölkerung ausgerottet wird.

„Heute war sein Geist ausgetrocknet, sein Tintenfass versiegt. Die Worte entzogen sich ihm, seine eigenen Figuren flohen ihn. Das Wunder war vorbei. In seiner inneren Welt herrschte Weltuntergangsstimmung." Mehr und mehr wird deutlich, dass Stefan Zweig auch nicht mehr schreiben kann. Das Grauen in der fernen Heimat erreicht ihn überall. Und das Ende erscheint nur konsequent. Wie einen letzten Triumph schildert Seksik den gemeinsamen Selbstmord des Ehepaares. Viele jüdische Intellektuelle besaßen dieses ominöse Fläschchen Veronal, um den Häschern wenigstens durch Selbstmord zuvorkommen zu können.

Eine beeindruckende und zugleich bedrückende Reise in die Psyche eines Ausgegrenzten, eines Menschen, dem durch ein barbarisches Regime jegliche kulturelle und auch menschliche Identität genommen wird, ist Laurent Seksik mit diesem Roman gelungen. Dieses Gefühl des Verfolgtseins und der ständigen Bedrohung gilt nicht nur für Stefan Zweig, sondern kann als exemplarisch angesehen werden für alle, die politischer oder rassistischer Verfolgung ausgesetzt sind. Der vierte Roman des studierten Mediziners Laurent Seksik hat ihm in Frankreich den Durchbruch auf die Bestsellerränge gebracht und wurde mit dem „Grand Prix des Lectrices de ‚Elle’" ausgezeichnet.

 

 

#Laurent Seksik: Vorgefühl der nahen Nacht (aus dem Französischen von Hanna van Laak); 239 Seiten; Karl Blessing Verlag, München;

€ 18,95

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